Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Bingham
Vom Netzwerk:
lässt. Zuvor muss ich mich allerdings noch ordentlich anziehen. Hose. Oberteil. Stiefel. Dann fällt mir das Magazin in der Jackentasche ein. Ich nehme es heraus, gehe wieder in den Leuchtturm und lege es auf den Tisch. Zuvor wische ich es aber gut am Futter meiner Jacke ab, damit keine Fingerabdrücke oder Schweißspuren darauf sind. Wenn doch – na ja, dann ist es eben so.
    Die Pistole des Russen lege ich neben die Munition.
    Obwohl ich jetzt wieder richtig angezogen bin, fühle ich mich ohne die Waffe ziemlich nackt.
    Zu nackt. Ich bereite mich ein letztes Mal auf den Schrecken vor, gehe noch mal rein und hole die Pistole. Ich rieche daran. Heute wurde sie noch nicht abgefeuert. Es ist sogar möglich, dass sie überhaupt noch nicht an einem Ort abgefeuert wurde, der es den Ballistikern erlaubt, Vergleiche anzustellen. Heutzutage sind Pistolen ja Einwegartikel. Einmal benutzt und dann weggeworfen.
    Die russische Pistole ist größer als meine, aber nicht unhandlich groß. Sie liegt gut in der Hand. Das zusätzliche Gewicht gefällt mir. Keine Kompromisse. Eine Erwachsenenpistole.
    Ich frage mich, was ich damit tun soll.
    Den netten Menschen aushändigen, die hier gleich eintrudeln werden. Das wäre die Antwort, die jeder aufrechte Polizist ohne groß nachzudenken geben würde.
    Ich behalte sie. Das sagt mir mein Instinkt. Ich habe gerne eine Waffe im Haus. Da kann ich besser schlafen. Ich fühle mich einfach komplett, wenn ich eine Waffe habe und weiß, wie ich damit umgehen muss.
    Andererseits war es ein langer Tag, und diese Fragen sind zu kompliziert, um sie jetzt sofort zu beantworten, also versuche ich es gar nicht. Oben auf dem Feld steht eine niedrige Steinmauer. Sie sieht ziemlich alt aus. Ich gehe zum Schuppen neben dem Holzstapel und suche darin herum, bis ich einen alten Düngemittelsack finde. Ich wickle die Pistole in den Sack, laufe den Hügel zur Mauer hinauf und verstecke den Sack zwischen den Steinen, sodass er noch etwas hervorspitzt. Man wird ihn wohl nur für ein Stück altes Plastik halten. Ein guter Ort, um eine Pistole zu verstecken.
    Gerade schlendere ich wieder die Anhöhe hinunter, als ein Helikopter über den Hügel fliegt. Ich kann zwei Boote erkennen, die schnell von St Ishmael her durch die Wellen pflügen. Die Seitentüren des Helikopters sind geöffnet und geben den Blick auf zwei Scharfschützen mit Gewehren frei.
    Gute Arbeit, Jackson. Schnelle Arbeit. Wenn ich mich recht erinnere, ist ein Stück die Küste hinauf ein Luftwaffenstützpunkt. Der Helikopter mit den Scharfschützen kommt ohne Zweifel von dort. Jacksons Anruf ist wahrscheinlich das aufregendste Ereignis des ganzen Jahres.
    Hinter mir ertönen Sirenen. Polizeiautos. Krankenwagen. Starke Männer, die wissen, wie man mit dem Chaos umgeht, das ich hier angerichtet habe. Ich freue mich über ihre Ankunft.
    Als sie hier sind, sitze ich wieder auf den Steinstufen und zittere und zittere und zittere.

46
    Mit das Schönste an Wales – oder an Großbritannien überhaupt – ist die Qualität der Polizei. Natürlich gibt es unter den Beamten hin und wieder ein schwarzes Schaf und mehr als genug Volltrottel, aber wenn es um gesunden Menschenverstand, Herzlichkeit und Unbestechlichkeit geht, macht den britischen Polizisten so leicht niemand was vor.
    In einem Café in Haverfordwest lässt mich Dennis Jackson süßen Kakao mit viel Milch trinken. Dazu hat er mir Bohnen auf Toast bestellt, weil er der Meinung ist, dass ich etwas zu mir nehmen müsse. Ich gebe mein Bestes.
    » An Bord waren vier Frauen«, sagt er und macht eine Pause. » Ich weiß nicht, ob Sie das jetzt hören wollen, aber in Anbetracht dessen, was Sie heute schon miterleben mussten, macht das wohl keinen großen Unterschied.«
    Ich nicke.
    » Vier Frauen. Keine konnte Englisch. Isolierband über dem Mund, die Hände mit Kabelbindern gefesselt. Betonsteine an die Füße gebunden. Sie wollten sie gerade auf offene See …«
    » Ich weiß.«
    » Auf offene See bringen und …«
    » Ich weiß.«
    » Können Sie sich das vorstellen?«
    Der bärbeißige Detective Chief Inspector Jackson mit den buschigen Augenbrauen konnte diesen Satz nicht zu Ende bringen. Muss er auch nicht. Ich weiß ja, was er sagen will und wie es ihm dabei geht.
    Ich glaube, dass es mir genauso geht. Fast. Natürlich werde ich keine Tränen vergießen. Außerdem bin ich im Gegensatz zu Jackson mit meinen Gefühlen nicht per du. Trotzdem. In den letzten Wochen ist die Glaswand zwischen mir und

Weitere Kostenlose Bücher