Totenklage
unglaublich durstig.
Ich trotte in das Feld hinter mir und hole die Pistole. Auf dem Lauf ist ein Schlitten. Wenn man ihn zurückzieht, rutscht eine Kugel in die Kammer. Ach so. Ich wusste ja, dass ich’s rausfinde, wenn ich genug Zeit habe.
Der Weg zurück zum Leuchtturm scheint hundert Meilen lang zu sein. Ich spüre jeden Zentimeter davon. Und trotz des T-Shirts fühle ich mich nackt.
Ich kann Gewalt nicht leiden – obwohl ich diese finstere, unberechenbare Kunst eingehend studiert habe. Gefallen habe ich trotzdem nicht daran gefunden. Was ich gerade getan habe, erfüllt mich mit Abscheu. Was hier geschehen ist, erfüllt mich mit Abscheu.
Als ich den Leuchtturm erreiche, kann ich ihn noch nicht sofort wieder betreten. Ein Haus des Schreckens. Fletchers stumpfe, widerwärtige Augen.
Ich setze mich für eine, vielleicht zwei Minuten auf die Steintreppe und mache gar nichts. Obwohl ich nicht bewusst meinen Atem kontrolliere, habe ich inzwischen eine gewisse unterbewusste Routine. Ein, zwei, drei, vier, fünf. Aus, zwei, drei, vier, fünf. Mein Puls verlangsamt sich. Ich bin ruhiger. Was für ein wunderschöner Tag, fällt mir auf. Was für ein ganz besonders wunderschöner Ort. Gemähtes Gras, mit Flechten überwachsener Sandstein und das grenzenlose tiefblaue Meer.
Seit dem Zeitpunkt, als ich das Auto auf dem Seitenstreifen über dem Leuchtturm abgestellt habe, gab es keine Barriere zwischen mir und meinen Gefühlen. Nichts. Ich war noch nie so lange voll und ganz ich selbst.
Ein, zwei, drei, vier, fünf. Aus, zwei, drei, vier, fünf.
Dann schleppe ich mich in den Turm, in die Finsternis, Heimstatt so vieler Grausamkeiten.
Fletcher lebt noch, ist aber bewusstlos. Anscheinend haben die Wunden aufgehört zu bluten, also lasse ich ihn liegen. Im Moment kann ich sowieso keine schwierigen Entscheidungen treffen. Das überlasse ich lieber den Profis.
Unten steige ich über zwei mehr oder weniger ohnmächtige Männer und mache um den Toten einen großen Bogen.
Die Frauen starren mich an. Sie wissen noch nicht, dass sie gerade gerettet wurden. Vielleicht wussten sie auch nicht, dass sie kurz davor waren, umgebracht zu werden. Wie dem auch sei – nach dem, was sie durchgemacht haben, wird ihre endgültige Rettung wohl noch auf sich warten lassen. Vielleicht werden sie es auch nie schaffen. Janet Mancini hat es nicht geschafft. Stacey Edwards auch nicht. Es hat keinen Zweck, in einer friedlichen Welt zu leben, wenn einem der eigene Kopf den Krieg erklärt hat.
Die Schlüssel für die Fesseln der Frauen kann ich nirgendwo finden, aber das ist auch nicht so wichtig. Erst sehe ich mir die beiden Männer in Handschellen an. Sie sind nicht in bester Verfassung, aber sie leben noch, und ich habe keine große Lust, ihnen erste Hilfe zu leisten. Ich gehe zu meinen Klamotten rüber und nehme das Handy heraus. Im Keller habe ich keinen Empfang, daher rufe ich Jackson von der Steintreppe vor der Tür aus an.
Er will mich schon für mein unerlaubtes Fernbleiben zur Sau machen, als ich ihm das Wort abschneide und erzähle, wo ich bin und was geschehen ist.
Ich sage ihm, dass ein Mann gestorben ist und vier weitere dies noch tun könnten, wenn nicht rechtzeitig Hilfe kommt.
Ich erzähle ihm von dem Boot.
» Auf dem Boot ist mindestens eine Frau, wahrscheinlich mehrere. Bis zu sechs Frauen möglicherweise. Ich vermute, dass man sie auf offenem Meer über Bord werfen will. Am besten wäre es, wenn sich die Schiffe von der Seeseite aus nähern. Noch besser wären ein Helikopter und Taucher, wenn jemand an Bord versuchen sollte, die Beweise im letzten Moment zu vernichten. Und Scharfschützen, wenn Sie welche auftreiben können.«
Gott sei’s gedankt – Jackson hält sich an meine Anweisungen. Er glaubt mir. Dann befiehlt er mir, in der Leitung zu bleiben – ich habe ihn auf dem Handy angerufen –, und ich kann mithören, wie er in das Festnetztelefon Anweisungen brüllt und die Kavallerie mobilisiert. Hin und wieder spricht er mit mir. Er will die genaue Lage des Bootes, eine exakte Beschreibung, die Anzahl der Männer, die an Bord sein könnten – das kann ich ihm natürlich nicht beantworten, aber so viele können es ja nicht mehr sein. Vielleicht ist es nur Martyn Roberts.
Für mich ist es jetzt ein Kinderspiel. Jemand anderes hat die Verantwortung übernommen und kümmert sich um die Sache. Ich ziehe die Stiefel aus. Diese kleine Steintreppe ist ein schönes, sonniges Plätzchen, auf dem es sich gut liegen
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