Totenkünstler (German Edition)
sehen, hätte er den Deckel ja einfach abreißen können.«
Hunters Überlegung war genau dieselbe gewesen. Wenn der Deckel Teil der Skulptur war, gab es dafür auch einen Grund.
»Meinetwegen. Dann haben wir eben Person A, die Person B dabei zusieht, wie sie in einer Kiste liegt«, korrigierte Captain Blake ihre ursprüngliche Behauptung. »Und? Irgendwelche Ideen, was das bedeuten könnte?«
»Vorerst nicht«, räumte Hunter ein.
»Also noch ein völlig unverständlicher Hinweis? Noch ein Teil in diesem Puzzle aus endlos vielen Teilen?«
Hunter sagte nichts.
Captain Blake trat einen Schritt zurück. Sie war sichtlich erregt. »Und was ist mit dem zweiten Bild?«
Unter Zuhilfenahme der Tatortfotos erläuterte Garcia, dass die Skulpturen an jeweils entgegengesetzten Enden des Schreibtischs aufgebaut worden waren. Durch geschickte Platzierung von Littlewoods Kopf sowie seines herausgerissenen Auges hatte der Täter wie ein Regisseur die richtigen Einfallswinkel des Lichts vorgegeben, durch die sich die Schattenbilder offenbarten.
»Das hier ist das Schattenbild vom zweiten Teil.« Garcia pinnte das nächste Foto an die Wand.
Da die zweite Skulptur der ersten sehr ähnlich sah, verwunderte es nicht weiter, dass auch ihre Schatten beinahe identisch waren. Zweifellos stellte auch das zweite Schattenbild eine Person dar, nur dass besagte Person, da der Killer ihre »Beine« durch Abtrennen der Fingerendglieder verkürzt hatte, entweder wesentlich kleiner war als die erste oder aber auf dem Boden kniete. Die Position des Daumens – im Gelenk nach vorn geschoben und mit gebrochener, nach oben verdrehter Kuppe – ließ es so aussehen, als zeige die Person mit erhobenem Arm gen Himmel. Auf dem Boden unmittelbar vor der Figur lagen mehrere große, nicht näher identifizierbare Gegenstände. Ihre Schatten stammten von den Fleischstücken, die der Täter aus Littlewoods Schenkel herausgeschnitten hatte.
»Jetzt reicht es mir aber«, bellte Captain Blake in das angespannte Schweigen hinein. »Er macht sich über uns lustig, das ist doch sonnenklar. Was zum Teufel soll das sein? Ein Zwerg? Ein Kind? Jemand, der kniet? Betet? Zum Himmel zeigt?« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit noch einmal auf das erste Schattenfoto. »Also, da hätten wir erstens jemanden, der jemand anderem dabei zusieht, wie der in einer Kiste liegt. Und zweitens …«, sie stach mit dem Finger auf das zweite Foto ein, »einen Zwerg, ein Kind oder jemanden, der kniet, als würde er beten. In welchem Zusammenhang steht das mit dem Toten?«
Die anderen wussten, dass es sich um eine rein rhetorische Frage handelte.
»Ich sage Ihnen was …«, fuhr Blake fort, ohne jemandem die Gelegenheit zu geben, vielleicht doch noch zu antworten. »Nichts. Er führt uns an der Nase herum, mit seinen Tieren, seinen gehörnten Monstern, seinen Botschaften an der Wand, seinen Rocksongs und jetzt mit diesem Mist hier. Er stiehlt uns die Zeit, weil er ganz genau weiß, dass wir uns stundenlang die Köpfe darüber zerbrechen, was dieser ganze Humbug zu bedeuten hat.« Sie machte eine fahrige Handbewegung in Richtung Pinnwand. »Derweil läuft er herum, plant seinen nächsten Mord, beobachtet sein nächstes Opfer und lacht sich scheckig über uns. Schattenfiguren? Wir sind hier die, die einen Schatten haben, weil wir uns von diesem Kerl manipulieren lassen. Wir sind Marionetten, und er bringt uns zum Tanzen.«
82
Am Nachmittag hatte sich Hunter, unterstützt von Garcia und Captain Blake, der versammelten Presse gestellt, die ihm eher wie ein Erschießungskommando vorkam. Reporter hatten sämtliche Angestellte aus Nathan Littlewoods Bürohaus befragt, und die Geschichten, die sie zu hören bekommen hatten, reichten von Zerstückelung und Enthauptung bis hin zu blutigen Voodoo-Ritualen und Kannibalismus. Eine Frau hatte sogar das Wort Vampir in den Mund genommen.
Hunter, Garcia und Captain Blake taten ihr Bestes, die Reporter davon zu überzeugen, dass keine dieser Schauergeschichten den Tatsachen entsprach. Trotzdem stand eins fest: Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Kunde von einem neuen Serienmörder an die Öffentlichkeit gelangte.
Nach der Pressekonferenz machten sich Hunter und Garcia daran, die Namen der neuen Patienten zu überprüfen, die Littlewoods Sekretärin ihnen genannt hatte. In den vergangenen drei Monaten hatte Nathan Littlewood aufgrund seines recht vollen Terminplans lediglich drei neue Patienten annehmen können – Kelli Whyte, Denise Forde
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