Totenkünstler (German Edition)
»Zunächst mal gibt es für jedes Tier, das ich mir in dem Zusammenhang angeschaut habe, eine ganze Palette möglicher Interpretationen. Je länger ich recherchiert habe, desto unübersichtlicher wurde es. Und als ich die Suche dann noch auf verschiedene Kulturkreise und Zeitepochen ausgeweitet habe, bin ich von Bedeutungen regelrecht überschwemmt worden.«
Hunter hob fragend eine Braue.
»Zum Beispiel«, Alice legte ein Blatt zwischen sie beide auf den Couchtisch, »gibt es mehrere Stämme amerikanischer Ureinwohner, bei denen der Kojote beziehungsweise der Wolf für eine Gottheit steht oder für einen bösen Geist oder sogar für das Böse an sich. Es ist kein Zufall, dass sowohl in Cartoons als auch in der Kunst die meisten Dämonendarstellungen – sei es nun Satan, Beelzebub, Azazel oder was Ihnen sonst noch so für satanische Kreaturen einfallen – Ähnlichkeiten mit einem Hund haben.«
Hunter griff nach dem Blatt und überflog, was darauf geschrieben stand.
»In der ägyptischen Mythologie ist Anubis ein schakalköpfiger Gott, der die Mumifizierung der Toten überwacht und in Verbindung mit dem Jenseits steht.«
Hunter nickte. »Laut den Pyramidentexten des alten Königreichs war Anubis der wichtigste Totengott. Später wurde er von Osiris abgelöst.«
Alice sah ihn verwundert an.
Hunter tat die Sache mit einem Schulterzucken ab. »Ich lese viel.«
Alice besann sich wieder auf ihren Vortrag. »Überall auf der Welt gibt es Kulturen, in denen der Rabe als Geschöpf der Dunkelheit gilt, ähnlich wie die Fledermaus. Er ist ein Symbol für Geheimnis, Verwirrung, Zorn, Hass, Gewalt und alles, was man gemeinhin mit der Dunkelheit assoziiert.« Sie legte ein zweites Blatt auf den Tisch.
Hunter griff danach.
»Besonders weit verbreitet ist die Symbolik des Raben oder der Krähe als …«, sie machte eine Pause wie eine Lehrerin, die die Neugier ihrer Schüler steigern will, »… Todesbote. In einigen Kulturkreisen schickt man dem Feind eine Krähe oder einen Raben zum Zeichen dafür, dass er dem Tod geweiht ist. Manchmal einen ganzen Vogel, manchmal nur den Kopf.« Sie holte tief Luft. »In Süd-und Mittelamerika existiert dieser Brauch heute noch.« Sie wies Hunter auf die entsprechenden Textstellen hin.
Hunter nahm alles mit einem Nicken zur Kenntnis und trank noch einen Schluck von seinem Whisky. Schweigend las er zu Ende.
»Bevor ich weitererzähle, muss ich Sie noch was fragen«, sagte Alice.
»Nur zu.«
»Wieso um alles in der Welt hat der Täter überhaupt diese Skulpturen und Schattenbilder gemacht? Wenn er uns was zu sagen hat, warum schreibt er dann nicht einfach eine Botschaft an die Wand, so wie für diese arme Pflegeschülerin? Warum macht er sich so viel Mühe und geht so ein hohes Risiko ein, nur um uns irgendwelche mysteriösen Hinweise zu hinterlassen?«
Hunter rollte langsam den Kopf von links nach rechts. Selbst nach der Dusche und zwei Drinks waren seine Trapezmuskeln noch steif.
»Wenn ein Verbrecher absichtlich Hinweise hinterlässt, dann tut er das normalerweise aus einem von zwei Gründen«, sagte er. »Erstens: um die Polizei herauszufordern, also als eine Provokation. Er hält sich für besonders intelligent. Er ist überzeugt, man kann ihn nicht fassen. Für ihn ist es wie ein Spiel, und die Hinweise erhöhen sein Risiko, machen das Spiel spannender.«
»Er hält sich für Gott?«, fragte sie in Anlehnung dessen, was Miguel ihnen gesagt hatte.
»Manchmal auch das, ja.«
Sie ließ sich Hunters Worte durch den Kopf gehen. »Und der zweite Grund?«
»Um Verwirrung zu stiften. Um die Polizei auf die falsche Fährte zu locken, wenn man so will. Wenn das der Fall ist, haben die Hinweise überhaupt keine tiefere Bedeutung, aber natürlich wissen wir das erst mal nicht. Der Täter kann sich sicher sein, dass die Polizei jedem vermeintlich bedeutsamen Hinweis, den sie am Tatort vorfindet, nachgeht. Das ist Vorschrift. Das heißt, wir verschwenden wertvolle Zeit, indem wir versuchen, Sinn in etwas völlig Sinnloses hineinzulesen.«
»Und je kryptischer der Hinweis, desto mehr Zeit geht verloren.«
»Genau.«
Alice deutete Hunters Gesichtsausdruck richtig. »Aber Sie glauben nicht, dass in unserem Fall einer dieser beiden Gründe zutrifft?«
»Der zweite Grund definitiv nicht. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass unser Täter verblendet genug ist, sich selbst für unbesiegbar zu halten. Zu glauben, dass man ihn nicht fassen kann. Dass er Gott ist.«
»Aber so richtig
Weitere Kostenlose Bücher