Totenkünstler (German Edition)
verarbeiten.«
»Mit anderen Worten, es wäre Zeitverschwendung, sich auch nur einen Namen auf der Liste näher anzusehen?«, resümierte Captain Blake in trügerisch heiterem Tonfall. »Und warum haben Sie sie uns dann gegeben?« Sie warf ihr Blatt in einer Geste der Verachtung auf den Schreibtisch.
»Nein«, gab Alice in demselben Tonfall zurück. »Ich habe lediglich meine Meinung kundgetan. Ich habe die Liste zusammengestellt, weil das meine Aufgabe war. In all den Jahren, die ich jetzt schon für die Bezirksstaatsanwaltschaft arbeite, habe ich eins gelernt: Zeit ist bei jeder Ermittlung ein kostbares Gut. Wenn Sie die Ressourcen und die Zeit haben, alle neunundzwanzig Namen auf der Liste zu überprüfen, bin ich die Letzte, die Sie daran hindert.«
Bezirksstaatsanwalt Bradley grinste wie ein stolzer Vater, als er Captain Blake ansah. Das Einzige, was noch fehlte, war der Satz: Das ist mein Mädchen.
Hunter sah einen Muskel in Captain Blakes Kiefer zucken. »Aber das ist nicht der Grund, weshalb du so aufgeregt bist«, sagte er rasch, an Alice gewandt. »Du hast noch was anderes rausgefunden, stimmt’s?«
Ihre Augen blitzten. »Nachdem ich mit der Liste fertig war, ist mir eine Idee gekommen. Ich dachte mir: Warum die ganze Sache nicht mal aus einer anderen Perspektive betrachten?«
»Und welche Perspektive wäre das?«, fragte Captain Blake trocken.
Alice baute sich vor Blakes Schreibtisch auf. »Was, wenn die Person, die wir suchen, nur zu einem der Opfer eine Verbindung hat, nicht zu beiden?«
Alle dachten kurz darüber nach.
»Aber warum sollte er dann beide töten?«, gab Garcia schließlich zu bedenken.
Alice hob den rechten Zeigefinger, als wolle sie sagen: Tja, das ist die Preisfrage.
»Weil der Zusammenhang woanders liegt.« Sie gab niemandem Gelegenheit, ihre Worte zu hinterfragen. »Mit dem Gedanken im Hinterkopf habe ich schnell ein Programm geschrieben, das die Datenbank der Bezirksstaatsanwaltschaft durchsuchen konnte – spezifisch die Fälle, bei denen Nicholson Anklagevertreter war. Dann hat das Programm versucht, diese Ergebnisse mit Fällen zu verknüpfen, die Dupek im Laufe der Jahre bearbeitet hat.«
»Nach welchen Kriterien?«, fragte Hunter dazwischen.
Alice legte den Kopf schief und hob die Schultern. »Genau das war mein Problem. Die Bandbreite war ja ziemlich groß, deswegen habe ich mich dafür entschieden, mit was ganz Simplem anzufangen. Du hattest es selber schon mal ins Gespräch gebracht: Familienangehörige und Verwandte, die kürzlich aus dem Gefängnis entlassen wurden oder auf Bewährung freigekommen sind.« Sie hielt inne und wiegte den Kopf hin und her. »Na ja, ›kürzlich‹ ist vielleicht nicht ganz richtig. Für den Anfang bin ich fünf Jahre zurückgegangen.«
»Und …?« Captain Blake stellte den rechten Ellbogen auf die Armlehne ihres Drehstuhls und stützte das Kinn in die Hand.
»Und möglicherweise hatte ich Glück. Es hat sich nämlich ein vielversprechender Kandidat gefunden.«
46
Ein leises Lächeln flog über Alices Lippen, bevor sie vier Kopien eines Verbrecherfotos aus ihrer grünen Plastikmappe zog.
»Das ist Alfredo Ortega.«
Sie reichte jedem eine Kopie. Das Foto sah alt aus. Der darauf abgebildete Mann hatte ein asymmetrisches Gesicht mit kantigem Kinn, einer spitzen Nase, Ohren, die für seinen Kopf zu klein waren, schiefen Zähnen und fleischigen Lippen – nicht gerade die Attraktivität in Person. Seine Haare waren mitternachtsschwarz und reichten ihm bis über die Schultern.
»Okay«, sagte Captain Blake. »Finster genug sieht er schon mal aus. Was ist das für ein Kerl?«
»Also, Mr Ortega war ein amerikanischer Staatsbürger mexikanischer Abstammung. Er hat als Packer und Gabelstaplerfahrer in einer Lagerhalle in East L. A. gearbeitet. Ein Hüne – eins dreiundneunzig groß und einhundertzehn Kilo schwer. Die Art Mann, mit der man besser keinen Streit anfängt. Eines regnerischen Tages im August klagte er auf der Arbeit über Bauchschmerzen, angeblich hatte er was Falsches gegessen. Am Nachmittag hatte sein Chef schließlich Mitleid mit ihm und hat ihm den Rest des Tages freigegeben. Ortega war zu dem Zeitpunkt seit zwei Jahren verheiratet – Kinder hatte er keine. Er kam also früher als gewöhnlich nach Hause und hat seine Frau Pam im Bett mit einem anderen Mann erwischt. Einem seiner Kumpels, mit dem er öfter mal ein Bier trinken ging, um genau zu sein.«
Garcia verzog das Gesicht. »Das hört sich nicht gut
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