Totenkünstler (German Edition)
Bei so einem Zugriff ist man voller Adrenalin, da kocht das Blut hoch. Andy war als Erster bei ihm. Escobedo hatte eine Achtzehnjährige in ein leerstehendes Gebäude der Heilsarmee in Lynwood gezerrt. Andy war immer schon ein ziemlicher Choleriker gewesen. Seine Sicherung …« Stokes verzog den Mund zu einer Seite und neigte den Kopf. »Na ja, sagen wir mal, er hatte keine Sicherung. Es gab ständig Zoff mit unserem Captain, weil Andy dauernd die Beherrschung verlor. Er war nicht gerade gemeingefährlich, aber viel hat nicht gefehlt, wenn Sie wissen, was ich meine. Als er ins Gebäude kam, hatte Escobedo dem Mädchen schon die Bluse runtergerissen und sie übel zugerichtet. Als Andy das sah, hat er vergessen, dass er ein Cop ist, und mit Escobedo ein paar Runden Hau-den-Lukas gespielt. Verstehen Sie?«
Hunter erwiderte nichts. Eine Zeitlang herrschte Schweigen.
»Die Wahrheit ist …«, fuhr Stokes schließlich fort, »… dass der Mistkerl jeden einzelnen Schlag verdient hatte. Andy hat ihm das Gesicht zu Brei geschlagen.«
Hunter trank unberührt von seinem Kaffee. »Und wo ist er jetzt? Escobedo?«
»Keine Ahnung. Das war vor zwölf Jahren. Escobedo hat zehn Jahre gekriegt und jede Sekunde davon abgesessen. Soweit ich weiß, wurde er vor zwei Jahren entlassen.«
Ein Gefühl wie ein Stromstoß jagte Hunter das Rückgrat hinauf.
»Und eins sag ich Ihnen jetzt gleich«, fuhr Stokes fort, »wenn dieser Drecksack derjenige ist, der Andy auf dem Gewissen hat, dann …«
»Wo hat er eingesessen?«, unterbrach Hunter ihn. Er war bis an die Kante seines Stuhls vorgerückt.
»Was?« Stokes kniff die Augen zusammen und schob sich eine Strähne seines schlaffen Haares aus der Stirn.
»Escobedo, in welchem Gefängnis war er?«
»Im Staatsgefängnis von Los Angeles County.«
»Lancaster?«
»Ja.«
Im selben Gefängnis wie Ken Sands, durchfuhr es Hunter.
»Im Ernst, wenn Escobedo ihn auf dem Gewissen hat, dann werde ich …«
»Sie werden überhaupt nichts tun«, schnitt Hunter Stokes abermals das Wort ab. Das Letzte, was er wollte, war, dass Stokes das Café verließ und dachte, er kenne die Identität des neuesten Copkillers von L. A. Die falsche Information würde sich ausbreiten wie ein Lauffeuer, und noch vor der Mittagspause wären die Cops der halben Stadt auf dem Kriegspfad. Davon musste er Stokes unbedingt abbringen. »Hören Sie, Seb, wenn Escobedo der Einzige ist, der Ihnen einfällt, dann überprüfen wir ihn natürlich, aber momentan ist er für uns nicht mal ein Verdächtiger. Er ist bloß ein Name auf einer Liste. Wir haben nichts, was ihn mit dem Tatort in Verbindung bringen könnte – keine Fingerabdrücke, keine DNA, keine Fasern, keine Augenzeugen. Wir wissen nicht mal, wo er war, als Dupek ermordet wurde, oder ob er über die Fähigkeiten verfügt, die zur Ausführung der Tat notwendig waren.« Hunter ließ ein paar Sekunden verstreichen, damit seine Worte ihre volle Wirkung entfalten konnten. »Sie sind ein guter Detective, ich habe Ihre Akte gelesen. Sie wissen genau, wie es abläuft. Wenn jetzt irgendein Gerücht die Runde macht, gerät die gesamte Ermittlung in Gefahr. Und wenn das passiert, dann kommt der Schuldige vielleicht davon. Das wissen Sie.«
»Dieses Arschloch wird garantiert nicht davonkommen.«
»Da haben Sie recht, das wird er nicht. Und falls Escobedo unser Mann ist, werde ich ihn fassen.«
Die Entschlossenheit in Hunters Tonfall ließ Stokes’ harten Blick ein wenig weicher werden.
Hunter legte eine Visitenkarte auf den Tisch und schob sie Stokes hin. »Wenn Ihnen außer Escobedo noch jemand einfällt, rufen Sie mich an.« Bevor er aufstand, fügte er hinzu: »Noch eins. Tun Sie mir den Gefallen und seien Sie auf der Hut, in Ordnung? Der Kerl ist schlauer als die Verbrecher, mit denen Sie es normalerweise zu tun kriegen.«
Stokes grinste. »Wie gesagt …« Er tätschelte die Ausbuchtung unter seinem Jackett. »Der soll nur kommen …«
54
Garcia war gerade mit den Akten fertig, die Alice ihm mitgebracht hatte, als Hunter die Tür zum Büro aufstieß. Die Fahrt zurück vom Grub Café hatte länger gedauert als erwartet.
»Du musst das hier lesen«, sagte Garcia, noch ehe Hunter an seinem Schreibtisch angekommen war.
»Was ist das?«
»Die Gefängnisakten und Besucherlisten von Alfredo Ortega und Ken Sands.«
Hunter sah stirnrunzelnd zu Alice hinüber, die sich gerade eine Tasse Kaffee einschenkte.
»Captain Blake hat gesagt, wir sollen in die Hufe kommen; also
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