Totenkünstler (German Edition)
darüber machte sich Hunter keine Illusionen.
»Im sechsten Jahr seiner Haft hat Ken Sands gleich zwei Schicksalsschläge erlitten«, führte Alice ihren Bericht fort. »Zuerst wurde Ortega nach sechzehn Jahren im Todestrakt per Giftspritze hingerichtet. Ein halbes Jahr später ist Sands’ Mutter an einer Gehirnblutung gestorben. Deswegen haben auch die Besuche aufgehört. Man hat ihm erlaubt, zur Beisetzung zu gehen – natürlich schwer bewacht. Es waren insgesamt nur zehn Trauergäste da, unter anderem sein Vater, aber mit dem hat Sands kein Wort gesprochen. Angeblich war er völlig emotionslos. Keine einzige Träne.«
Das wunderte Hunter nicht. Ken Sands hatte einen Ruf als knallharter Schlägertyp, für Kerle wie ihn war Stolz alles. Niemals hätte er seinem Vater oder den Wachen die Genugtuung verschafft, ihn dabei zu sehen, wie er litt oder gar weinte, nicht einmal am Grab seiner Mutter. Falls er Tränen vergossen hatte, dann in der Abgeschiedenheit seiner Zelle.
Garcia stand auf und ging bis zur Mitte des Raums. »Okay, das ist alles schon ganz interessant – aber nicht so interessant wie das, was jetzt kommt.« Er deutete mit dem Kinn auf die Akte in seinen Händen. »Du weißt ja sicher, dass die Gefängnisse als Rehabilitationsanstalten ihren Insassen die Möglichkeit bieten, verschiedene Kurse zu belegen, eine Lehre zu machen oder einer Arbeit nachzugehen. Sie nennen das edukativ-berufliche Programmierung. Ihrem Leitbild zufolge soll das Ganze bei den Insassen Produktivität, Verantwortungsbewusstsein und den Willen zur Selbstvervollkommnung fördern. Obwohl es in der Realität nicht immer ganz so erfolgreich funktioniert.«
»Aha.« Hunter verschränkte die Arme vor der Brust.
»Einige Häftlinge dürfen auch, sofern sie einen entsprechenden Antrag stellen und dieser bewilligt wird, an Fernkursen teilnehmen. Mehrere Universitäten in den Vereinigten Staaten sind Kooperationspartner des Programms und bieten eine ganze Bandbreite von Studiengängen an.«
»Sands hat so ein Fernstudium gemacht«, schlussfolgerte Hunter.
»Er hat zwei gemacht. Und beide abgeschlossen.«
Hunter hob verblüfft die Brauen.
»Sands hat einen Abschluss in Psychologie vom College of Arts and Sciences, das gehört zur American University in Washington, DC, und …«, Garcia warf Alice einen Blick zu und machte eine bedeutungsvolle Pause, »… einen in Gesundheits-und Krankenpflege von der University of Massachusetts. Um das Examen zu machen, braucht man keine Praxiserfahrung im Umgang mit Patienten, allerdings hätte er im Rahmen des Studiengangs die Erlaubnis gehabt, medizinische Fachbücher anzufordern. Bücher, die die Gefängnisbibliothek nicht im regulären Bestand hatte.«
Hunter spürte, wie es in seinem ganzen Körper zu kribbeln begann.
»Weißt du noch«, warf Alice ein, »wie ich gesagt habe, dass Sands’ Schulnoten wesentlich besser waren, als man von einem Problemkind wie ihm erwartet hätte?«
»Ja.«
»Er hat beide Examen mit Bestnoten bestanden. Lobende Erwähnung bei seinem Abschluss in Psychologie und herausragende Noten während seines gesamten Krankenpflege-Studiums.« Sie begann mit dem silbernen Bettelarmband zu spielen, das sie am rechten Handgelenk trug. »Wenn wir also nach jemandem suchen, der über medizinische Fachkenntnisse verfügt, ist Sands ein klarer Anwärter.« Alice trank erneut einen Schluck von ihrem Kaffee, während sie Hunter vielsagend ansah. »Aber das ist immer noch nicht alles.«
Hunter warf Garcia einen fragenden Blick zu.
Dieser führte den Vortrag weiter. »Den Gefängnisinsassen wird die Gestaltung ihrer Freizeit in der Regel nicht selbst überlassen. Alle werden dazu angehalten, sich in irgendeiner Weise sinnvoll zu betätigen: mit Lesen, Malen oder was auch immer. Das Staatsgefängnis in Lancaster bietet diverse …«, Garcia malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft, »… persönlichkeitsfördernde Beschäftigungsmaßnahmen an. Sands hat viel gelesen und regelmäßig Bücher aus der Bibliothek ausgeliehen.«
»Das Problem ist leider«, klinkte sich Alice in den Vortrag ein, »dass der Katalog der Bibliothek nicht online verfügbar ist. Prinzipiell überrascht mich das nicht, aber es bedeutet natürlich, dass ich mich nicht einfach in den Katalog hacken und mir Sands’ Ausleihliste besorgen kann. Wir müssen warten, bis Lancaster sie uns schickt.«
»Außerdem hat Sands viel Zeit im Fitnessraum verbracht«, sagte Garcia nach einem Blick in die Akte.
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