Totenkünstler (German Edition)
»Und wenn er nicht gerade gelesen, Gewichte gestemmt oder für einen seiner Fernstudiengänge gebüffelt hat, ist er seinem Hobby nachgegangen. Ein Hobby, das er sich erst drinnen zugelegt hat.«
»Und zwar?« Hunter ging zum Wasserspender und ließ ein Glas volllaufen.
»Kunst.«
»Aber nicht Malen oder Zeichnen«, ergänzte Alice und sah Hunter auffordernd an, offenbar wollte sie, dass er sich den Rest selbst zusammenreimte.
»Bildhauerei«, sagte er.
Garcia und Alice nickten.
Hunter wollte nicht zu früh jubeln. Er verstand den psychologischen Ansatz, den der Staat Kalifornien in seinen Strafvollzugsanstalten verfolgte, sehr gut. Die Häftlinge sollten dazu ermutigt werden, ihre negativen Energien in etwas Kreatives, Konstruktives umzulenken. Jede Haftanstalt in Kalifornien verfügt über ein umfangreiches Kunstprogramm, und alle Insassen werden dazu angehalten, die Angebote wahrzunehmen. Die große Mehrheit tut dies auch. Wenn es auch sonst nichts bringt, so hilft es immerhin dabei, die Zeit totzuschlagen. Die drei beliebtesten künstlerischen Aktivitäten in kalifornischen Gefängnissen sind Malen, Zeichnen und Bildhauerei. Viele Insassen beschäftigen sich mit allen dreien.
»Und wir haben immer noch keinen möglichen Aufenthaltsort für Ken Sands?«, fragte Hunter.
Alice schüttelte den Kopf. »Es ist, als hätte er sich nach seiner Entlassung in Luft aufgelöst. Niemand weiß, wo er stecken könnte.«
»Es gibt immer jemanden, der irgendwas weiß«, widersprach Hunter.
»Das stimmt«, sagte Garcia, der emsig auf seine Computertastatur eintippte. Kurz darauf erwachte der Drucker neben seinem Schreibtisch aus dem Ruhezustand. »Das ist die letzte Liste, die du haben wolltest«, sagte er, angelte den Ausdruck aus dem Ausgabefach und hielt ihn Hunter hin. »Alle Insassen, die während der Zeit von Sands’ Haft im selben Zellenblock gesessen haben wie er. Es sind über vierhundert Namen, aber ich nehme dir das Suchen ab. Schau auf der zweiten Seite nach. Kommt dir da jemand bekannt vor?«
Alice warf Garcia einen verdutzten Blick zu. »Als du vorhin die Liste durchgegangen bist, hast du mir nicht gesagt, dass du einen der Namen kennst.«
Garcia lächelte. »Du hast mich auch nicht danach gefragt.«
Hunter blätterte auf Seite zwei und überflog die Namen. Nach etwa zwei Dritteln hielt er inne. »Da sieh mal einer an.«
56
Thomas Lynch, besser bekannt unter dem Spitznamen Tito, war ein Junkie und Schmalspurkrimineller, der der Polizei sieben Jahre zuvor ins Netz gegangen war, nachdem es im Rahmen eines bewaffneten Überfalls auf einen kleinen Supermarkt zu einer Schießerei gekommen war. Es hatte zwei Tote gegeben, den Ladenbesitzer und seine Frau.
Obwohl beide Räuber während des gesamten Überfalls Masken getragen hatten, war Hunter und Garcia bei der Analyse der Überwachungsaufnahmen bei einem der Männer eine nervöse Kopfbewegung aufgefallen. Ein Tic, hervorgerufen durch Stress. Drei Tage später hatten sie Tito.
Tito war ein kleiner Fisch. Es war sein erster bewaffneter Raubüberfall gewesen. Sein Partner Donnie Brusco, ein Cracksüchtiger, für den jede Hilfe zu spät kam und der davor bereits zweimal getötet hatte, war der eigentliche Drahtzieher gewesen.
Garcia brauchte nicht mal eine Stunde, um Tito zum Reden zu bringen. Anhand der Videos wussten sie, dass nicht er die Schüsse abgefeuert hatte. Im Gegenteil, er hatte sogar noch versucht, seinen Partner davon abzuhalten, das ältere Ehepaar zu erschießen. Als Gegenleistung für sein Geständnis stellte Garcia Tito einen Deal mit der Staatsanwaltschaft in Aussicht. Schließlich war dies sein erstes schweres Vergehen. Sollte er sich allerdings weigern zu kooperieren, würde er mit Sicherheit die Todesstrafe bekommen.
Also redete Tito, und Donnie Brusco wurde verhaftet und zum Tode durch die Giftspritze verurteilt. Derzeit saß er im Todestrakt von San Quentin und wartete auf seine Hinrichtung. Tito selbst bekam zehn Jahre für bewaffneten Raub und Beihilfe zum Mord. Hunter und Garcia hielten ihren Teil der Abmachung und legten für Tito ein gutes Wort beim Staatsanwalt ein, woraufhin dieser in der Verhandlung die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung auf Bewährung vorschlug. Nachdem er sechs Jahre seiner zehnjährigen Haftstrafe abgesessen hatte, war Tito nun elf Monate zuvor unter Aufsicht eines Bewährungshelfers in die Freiheit entlassen worden. Er hatte seine Strafe in Block A des kalifornischen Staatsgefängnisses in
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