Totenkünstler (German Edition)
Augen und kniff sich die Nasenlöcher zu.
»Ja, so gehört sich das«, murmelte er durch zusammengebissene Zähne. Genau das hatte er gebraucht. Er legte den Kopf in den Nacken, saß eine Zeitlang mit geschlossenen Augen da und genoss den Effekt, wie sich Droge und Alkohol in seinem Blut vermischten.
Tito war ganz mit seinem Trip beschäftigt und hörte nicht, wie seine Wohnungstür geöffnet wurde. Er war so hinüber gewesen, dass er ganz vergessen hatte, von innen abzuschließen.
Mit noch immer zurückgelegtem Kopf öffnete Tito schließlich die Augen, aber statt der Zimmerdecke sah er ein Gesicht über sich. Und Augen, die er kannte.
65
Am nächsten Morgen saß Hunter an seinem Schreibtisch und las die E-Mails, die sich über Nacht angesammelt hatten. Er war früh ins Büro gekommen, nur fünf Minuten nach Garcia. Keiner der beiden hatte gut geschlafen.
Hunter hatte sich vom Computer losgerissen und war gerade dabei, einige Notizen durchzugehen, als Alice an die Tür klopfte und ohne auf ein »Herein« zu warten eintrat. Ihre Augen verrieten, dass auch sie nicht viel Schlaf bekommen hatte. Sie ging schnurstracks zu Hunters Schreibtisch und legte ihm eine dreiseitige computergeschriebene Liste vor. Hunter sah auf.
»Die Liste der Bücher, die Sands aus der Bibliothek des Gefängnisses in Lancaster ausgeliehen hat«, verkündete sie, wobei sie den Triumph in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken konnte.
Hunter hielt ihren Blick fest.
»Ich musste hinfahren, um sie mir zu besorgen«, erklärte sie.
»Du musstest was?«, fragte Garcia.
»Ihr System wurde noch nicht auf Computer umgestellt, deswegen gibt es keinen Online-Katalog. Die Bibliothek verwendet noch ein uraltes Karteikarten-System, und sie haben ihre ganz eigene bizarre Art, alles zu archivieren. Wenn ich nicht hingefahren wäre, hätte es Tage, vielleicht sogar Wochen gedauert, bis wir das hier bekommen hätten.«
Hunter musste die nächste Frage nicht stellen, sie stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Also schön, ich habe hier gestern einen kleinen Lagerkoller bekommen«, gestand Alice. »Ihr zwei wart den ganzen Tag unterwegs. Ich hatte es satt, im Internet zu suchen und nichts zu finden. Also habe ich ein bisschen rumtelefoniert, und Bezirksstaatsanwalt Bradley hat mit dem Gefängnisdirektor gesprochen, damit ich mir die Bibliothek ansehen kann. Ich habe mehrere Stunden gebraucht, um das alles hier zusammenzustellen.«
Jetzt endlich griff Hunter nach der Liste.
»Ken Sands hat sich mehr oder weniger durch die komplette Gefängnisbücherei gelesen«, sagte Alice. »Allerdings gab es einige Bücher, die er mehr als einmal ausgeliehen hat. Manche davon sogar sehr viel mehr als einmal. Auf die habe ich mich konzentriert.«
Hunter begann die Liste zu überfliegen. Alice folgte seinem Blick.
»Dir wird auffallen, dass die ersten vierundzwanzig Titel medizinische Fachbücher sind«, fuhr sie fort. »Von denen steht die Hälfte überhaupt nur in der Bibliothek, weil Sands sie bestellt hat. Er brauchte sie für seinen Pflegestudiengang. Ich habe mir einen kurzen Überblick über die Inhalte verschafft. In mindestens fünf von den Büchern gibt es ausführliche Kapitel darüber, wie man Blutungen stillt und Blutgefäße, unter anderem die Oberschenkel-und Oberarmarterien, umsticht und ligiert. Inklusive detaillierter Anleitungen und Diagramme.«
Hunter hob den Blick.
Alice zuckte mit den Schultern. »Ich habe die Obduktionsberichte gelesen.«
Garcia verließ seinen Schreibtisch und gesellte sich zu ihnen. »Aber das ist doch nichts Neues. Wir wissen doch schon, dass Sands sich mit Medizin auskennt«, sagte er.
»Stimmt«, räumte Alice ein. »Aber das hier beweist, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit über die spezifischen Kenntnisse verfügt, um die Amputationen bei beiden Opfern durchzuführen und die Blutungen ordnungsgemäß zu stillen.«
Hunter schwieg. Er war nach wie vor mit den Buchtiteln beschäftigt.
»Ich sehe es folgendermaßen.« Alice redete unbeirrt weiter. »Wenn Sands unser Mann ist, dann hat er seinen Racheplan ganz offensichtlich schon im Gefängnis ausgebrütet. Aber nicht sofort. Bis so was im Kopf entsteht, dauert es vermutlich eine Weile. Und falls es stimmt, dass er nicht nur für sich selbst, sondern auch für Alfredo Ortega Rache nehmen wollte – der, wir erinnern uns, für Sands so was wie ein Bruder war –, dann hat der Plan vermutlich erst nach dessen Hinrichtung richtig Gestalt angenommen, also vor fünf
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