Totenkuss: Thriller
Axt auf seinen Rechner eingeschlagen. Eineinhalb Jahre war das schon
her, und nun traf es ihn wie ein Bumerang. Es hatte nichts genützt, dass er
seinen Computer vernichtet hatte, der Film kursierte immer noch im Netz. Und
man erkannte darin Ludgers Daumennagel. Er hatte die Kamera gehalten.
Der Mann, der sich Diego nannte, hatte ihm klar die
Bedingungen diktiert: Er wollte seinen Bus, seine Papiere, seine Kreditkarte,
seinen Laptop und sein Ferienhaus in der Toskana. Es war nichts, worauf Ludger
nicht verzichten konnte. Er brachte Diego samt seinem Peugeot-Rad im VW-Bus
über die Grenze bis runter nach Genua und fuhr mit dem Zug wieder zurück. Dass
er in der Schweiz kontrolliert wurde, war kein Problem. Diego hatte nur seinen
Personalausweis, den Reisepass hatte Ludger behalten. Am Montagmorgen hatte er
sich krank gemeldet, am Dienstag war er wieder pünktlich in der Schule.
Als er nach Hause kam, las er bewusst keine Zeitung. Er war
übermüdet, verstört, eingeschüchtert, aber auch seltsam beeindruckt. Diegos
Plan war so simpel. Er tarnte sich, indem er sich entblößte. Rasierte sich die
Haare ab und meinte, er käme damit durch. Obwohl er strohblond war und Ludger
fast braunhaarig. Obwohl er fünf Jahre jünger war, fünf Zentimeter größer und
zehn Kilo leichter. Obwohl er blaue Augen hatte und Ludger grünbraune. Aber sie
hatten tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit. Sie glichen einander stärker als
Ludger und Gernot. Das machte Ludger Angst. Wieder erwachte dieses alte
Unbehagen, die diffuse Erinnerung. Er konnte die Ahnung, die ihn beschlich,
nicht greifen. Weil sie ihn nervös machte und quälte, versuchte er, sie zu
verdrängen. Auch wollte er lieber gar nicht wissen, warum Diego im Gefängnis
gewesen war. Er wehrte sich nicht und stellte Diego keine Fragen. Hoffte
stattdessen, dass er beizeiten wieder verschwand. Dass der Spuk ein Ende nahm,
bevor er zum Alptraum wurde. Im Grunde hatte Ludger damit gerechnet, dass Gott
ihn strafen würde – womit auch immer. Gottes Wege waren
unergründlich.
Als Ludger am Dienstagabend eine Runde joggen wollte, stand
seine Nachbarin an der Straße und lauerte ihm auf. »So so«, sagte Irmtraud
Haselbacher, die sich die feisten Hände an der Schürze rieb. »Bisch also wieder
im Land.«
»Das war ich die ganze Zeit«, log Ludger, wobei es eine
lässliche Lüge war. Denn Zeit war relativ.
»Aber du hast doch den VW-Bus aus der Garage geholt.« Ihre
Stimme hatte einen fragenden Unterton, und sie strich sich fahrig das kinnlange
graue Haar hinter die Ohren.
Ludger nickte. »Ich musste ihn am Montagmorgen vor der Schule
gleich zum TÜV bringen. Jetzt steht er ohne Motor in der Werkstatt und ich
warte auf den Kostenvoranschlag. Kein Mensch weiß, ob sich die Reparatur
nochmals lohnt.«
»Ja so«, entgegnete Irmtraud, »ja, kannst du dann am Freitag
überhaupt in die Ferien fahren?«
»Das ist die Frage.« Ludger zuckte die Schultern. »Vielleicht
nehm ich einfach den Zug und lass mich unten irgendwo abholen.«
»Teurer Spaß, wenn du deine Mädle mitnimmst.«
»Der Bus frisst zwölf Liter. Das ist auch teuer.«
Ludger würde Noé und Lucy sagen, dass der Bus einen
Austauschmotor brauchte. Dass der Wassertank oberhalb vom Haus wieder einen Riss
hatte. Und dass Antonio noch keine Zeit gehabt hatte, hineinzusteigen und ihn
zu flicken. Das Leben ohne Trinkwasser war anstrengend: Man musste Kanister
schleppen, Wasser sparen, Wasser horten. Mit dem Wasser, mit dem man Salat
gewaschen hatte, wusch man hinterher die Haare und spülte dann noch das Klo.
»Wollt ihr das wirklich?«, würde Ludger fragen. »Wollt ihr Toskana als
Dschungelcamp? Oder buchen wir lieber diesmal einen Pauschalurlaub?«
Die Stadt
ist häßlich, dumpf, schmutzig, alle Straßen liegen voll Mist; die Einwohner
sind armselig, es gibt nicht einmal schöne Gesichter; die Universität ist
unbedeutend, gemein, kein begeisternder Mann, unter den Studenten der
schlechteste Ton, die Mediziner meist Barbiergesellen […] An Gesellschaft ist
hier gar nicht zu denken, man ahnt gar nicht, was hier alles fehlt, ich kann
wirklich hier nur mit Mühe denken. […] Die Gegend ist schön, aber
melancholisch, und erdrückt mich durch das Gefühl der Einsamkeit. –
Karl August Varnhagen von Ense,
An Rahel (Tübingen 1808)
Mittwoch, 7. Mai
# Dieser ungeheure Irrtum, in den wir geraten sind
Am Vormittag goss es in Strömen. Fehrle
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