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Totenkuss: Thriller

Totenkuss: Thriller

Titel: Totenkuss: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uta-Maria Heim
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hatte
lange geschlafen. Er hatte frei und beglückwünschte sich, dass er am Abend
vorher geschwind eingekauft hatte: Tomaten, Käse, Oliven, Weißbrot und
Mineralwasser. Er trank kein Bier mehr, überhaupt keinen Alkohol, vom Tee hatte
er genug, Saft und Kaffee vertrug er sowieso nicht. Dafür mochte er Sprudel mit
viel Kohlensäure. Vielerorts gab es nur noch medium, wie überhaupt alles immer
halbgarer und mittelmäßiger anmutete. Die Möglichkeiten werden immer geringer,
die Wege enger, die Zugriffe, die das Leben noch bietet, überschaubarer, dachte
er. Dass der Alltag immer zäher wurde und dass er stramm auf die 40 zuging. Er
prüfte seine Atmung. Sie funktionierte. Er studierte das Etikett. Dann trank er
einen Schluck aus der Flasche. Die Allergie, die ihn plagte, war mit dem
Sauwetter verschwunden.
    Fehrle war groß, schlank und extrem gutaussehend mit seinem
dichten schwarzen Haar, das an den Schläfen ergraute, den ebenmäßigen
Gesichtszügen und der gebräunten Haut. Keines seiner fünf jüngeren Geschwister
sah ansatzweise so gut aus wie er, und er hatte mit keinem ein herzensgutes
Verhältnis. Auf Timotheus folgten Johannes, Dorothea, Peter-Paul, Gottfried und
Elisabeth, die alle bleich und mausbraun waren und bigotte Namen hatten, die
man praktisch abkürzte. Nur Timo wurde tatsächlich Timotheus genannt,
Fürchtegott. Er war am Heiligabend geboren, weshalb man ihn auch das Jesusle
hieß, im Revolutionsjahr 1968. Niemand wusste, woher das Exotische kam, er sah
aus wie ein halber Araber, ein Jude, ein Perser oder ein Inder. Als er klein
war, hatte seine Mutter behauptet, man habe ihn als Säugling nach der Taufe auf
der Ofenbank im Wirtshaus vertauscht. Und dann habe man ihn halt behalten.
Obwohl er in Wirklichkeit der Sohn eines steinreichen jüdischen Sultans sei,
der sich bei seiner Baden-Badener Sommerfrische in den Mittleren Schwarzwald
verirrt habe. Auf diese Weise sei dem Jesusle zwar ein Vermögen entgangen, aber
er habe dafür einen Stall bildschöner Brüderlein und Schwesterlein bekommen,
das sei schließlich viel wertvoller und noch schöner als in der Bibel, nicht
wahr? Und der echte Timotheus lebe – Gott sei’s
gedankt – als künftiger Gottessohn und König seit Tausendundeiner
Nacht im Morgenland.
    Das hatte Fehrle einen Schock fürs Leben versetzt, denn er
war ein ernsthaftes Kind gewesen, ein eher zartes Gemüt, ein Büble, das gern
grübelte, alles wörtlich nahm, zögerlich blieb und Späße nicht verstand. Jahrelang
hatte er sich, scheinbar zu Recht, nicht mehr angenommen gefühlt, und die
Frage, warum nach ihm noch fünf andere Kinder auf die Welt kommen mussten, war
damit auch erledigt. Sie kamen nach, damit er nicht mehr so wichtig war.
Irgendwann in der Grundschule stieß ihm auf, dass die Mutter bloß einen Witz
gemacht hatte. Aber da hatte Timo in sich schon diesen Riss gespürt, der bis
heute nicht wieder verheilt war. Vielleicht wirkte er deshalb stets ein wenig
melancholisch, fühlte sich leicht kränklich und wenig belastbar. Vielleicht
litt er deswegen mehr als andere.
    Fehrle stand nackt am Fenster der alten Bauernstube im ersten
Stock und stierte hinaus auf die Hauptstraße von Schorndorf-Schornberg. Sie war
ausgestorben. Auf der anderen Seite lief ein Gully über und schwemmte Scheiße
und Klopapier auf den Asphalt. Der Pfarrer läutete vom Kirchturm die
Elf-Uhr-Glocke, zum Zeichen, dass die Bäuerinnen vom Feld zu kommen hätten, um
ihren Mannen das Essen zu bereiten. Der Lärm brachte vergeblich die Fenster zum
Vibrieren. Abgesehen davon, dass es in der Teilgemeinde (ein paar
südostanatolische Schrebergärtnerinnen ausgenommen) keine Landwirtschaft mehr
gab, wäre bei diesem Seichwetter sowieso keine Sau auf dem Acker gewesen.
Fehrle rülpste. Vis-à-vis glotzten ihn tote Scheiben an, links davon verfiel
ein Hof und rechts hauste ein Tagdieb. In den Fachwerkruinen vereinsamten
Greise, Gehandikapte, verkrachte Existenzen. Ein menschenscheuer Neonazi hatte
sich in der Dorfbeiz verschanzt, die er zu einer Festung aufgerüstet hatte,
weil besonnene Bürger ihn schikanierten. Unbekannte schmierten Parolen an die
Wände, ehe sie die Scheiben einschlugen und das Anwesen abfackelten. Der Doktor
hatte seine Praxis geschlossen und der Steuerberater zog um. Auf den Leerstand
folgte bald die Abrissbirne. Das hatte der Ortschaftsrat versprochen. Dann
erstand hier aus lauter schlüsselfertigen Solarschachteln ein

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