Totenkuss: Thriller
Wasserleiche – erhalten durch natürliche postmortale
Leichenkonservierung im Landwehrkanal, vonstatten gegangen im Zeitraum von
Mitte Januar bis Ende Mai 1919. Die Spuren der Schläge mit dem Gewehrkolben
waren deutlich zu sehen. Darunter der Kopfschuss. Todesursache: Schweres
Schädel-Hirn-Trauma. Rechter Foltermord mit Billigung der SPD-Regierung. Tiberius
sagte, der Schädel stamme aus dem Institut für Rechtsmedizin der Charité, wo
Rosa Luxemburg am 1. Juni 1919 ins Leichenschauhaus eingeliefert worden sei.
Der Rest der Leiche liege immer noch dort – verstaubt, vergessen,
ohne Hände und Füße. Rosa Luxemburgs Sarg, der am 25. Januar 1919 mit 31
weiteren auf dem Zentralfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde beerdigt worden sei,
trauriges Ergebnis des niedergeschlagenen Spartakus-Aufstands, sei leer
gewesen. Die Gedenkstätte der Sozialisten, zu der jeden Januar Tausende
Stalinisten, Sozis und Sumpfblüten pilgerten, berge somit nur einen der
Anführer: Karl Liebknecht. Die roten Blumenbuketts zu Ehren der
Frauenrechtlerin, Vordenkerin und Kämpferin der europäischen Arbeiterbewegung
seien sämtlich für die Katz. Er, Tiberius, habe Luxemburgs Schädel vor einer
weiteren Vereinnahmung, Verfolgung und Schändung durch die Sozialdemokratie
errettet, denn was 1919 passiert sei, solle sich nicht auf Friedhöfen
wiederholen.
Rosa glaubte ihm jedes Wort. Er stellte sie sofort ein,
auch wenn sie kein Steno beherrschte und ihre Orthografie veraltet war. Man
konnte sie an den Seziertisch mitnehmen, was die Abläufe vereinfachte. Rosa
ekelte sich nie, auch nicht vor der Eröffnung und Sektion des Kopfes. Sie war
patent, adrett und zuverlässig. Und immer lustig. Außerdem hatte sie einen
praktischen Verstand und ein Gespür für die Kundschaft. »Wenn ich Sie nicht
hätte«, sagte Tiberius oft. Rosa errötete vor Stolz. Erst wohnte sie unter der
Woche im Schwesternhaus, dann machte sie den Führerschein und pendelte. Denn
für Ernst-August, ihren frühverstorbenen Mann, war es ganz und gar undenkbar
gewesen, Mariabronn zu verlassen, und später wollte sie dann selbst nicht mehr
fort.
Als die Zwillinge Raoul und Ruth klein waren, hatte Rosa
nur zwei Tage in der Woche gearbeitet, halbtags lohnte sich ja nicht, dafür war
der Weg nach Freiburg zu lang. Ewig weit ging es das Kinzigtal hinunter, und
alles mit dem Isetta. Hinterher, als die Zwillinge ins Gymnasium kamen,
schaffte sie dann drei Tage, und an den restlichen half sie in der Pathologie
des Kreiskrankenhauses oder stellte mit dem Dorfdoktor Totenscheine aus. Das
war ein mühsames Geschäft, weil man Schnaps trinken und hinterher gleich zum
Beichten musste. Rosa hatte im Lauf der Jahrzehnte etliche Mordopfer
begutachtet, hatte zahlreiche Totschläge, fahrlässige Tötungen, Misshandlungen,
Vergewaltigungen, unterlassene Hilfeleistungen, Kindstötungen, Suizide und
Unfälle rekonstruiert und stets genickt, wenn der Doktor wie immer eine
natürliche Todesursache diagnostizierte. Es half ja nichts. Tot war tot, und
nun musste man sich um die Lebenden kümmern.
Es war die Epoche zwischen dem Grundgesetz und dem Fall der
Mauer. Geschlagene 40 Jahre lang Nachkrieg. Die Zeit des Aufbruchs:
Wirtschaftswunder, Fresswelle, Massenbewegungen. Babyboom, Kirchenaustritt und
ungebremster Sex. Häuslesbau allerorten. Höfe verfielen, Bauern wurden
enteignet, Neubaugebiete hochgezogen. Keiner hatte die Zeit, sich um die
Vergangenheit zu kümmern und um das, was davon noch übrig war. Um die vielen,
vielen alten Nazis. Auf dem Land starben betagte, hilflose Angehörige häufig an
Vernachlässigung. Es gab weder Heime noch Pflegestufen. Man ließ die Greise
daheim verhungern, verdursten oder erfrieren. Auf dem Totenschein hatten dann
die Organe versagt oder das Herz. Kunststück. Ein Erfrierungstod begann immer
mit Kammerflimmern. Bei 25 Grad Körpertemperatur kam es zum Herzstillstand. Die
Ursache war nicht nachweisbar, infrage kam allenfalls eine Ausschlussdiagnose.
Geschwächte Menschen konnten bereits bei einer Raumtemperatur von zehn Grad
Celsius erfrieren, also in der ungeheizten Kammer. Und wenn sie so nicht
sterben wollten, gab man ihnen nichts zu essen und nichts zu trinken, bis die
Nieren versagten. Falls das nichts half, bildeten sich Kotsteine, sodass sie
nichts mehr verdauen konnten. Bei ihrer Henkersmahlzeit, deren Reste der Doktor
noch auf dem Nachttisch vorfand, waren sie in Sekundenschnelle an
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