Totenkuss: Thriller
breiten Wasseradern durchzogen war. Unterm Boden herrschte
Gedränge. Der Platz war knapp, denn zum Zersetzen fehlte der Sauerstoff. Was im
ungünstigsten Fall für Moorleichen und im günstigsten, konserviert durch
Leichenwachs, für Wachs- oder Gipsleichen sorgte. Zwar wurde seit dem
Mittelalter, wo man die Leichen in Leintüchern eng aneinandergelegt hatte, mit
Kalk nachgeholfen, aber das nützte nichts. Noch Jahrhunderte später konnte man
sie einzeln an die Wand stellen, wie Raufbolde, Stammtischler und Dorfheilige
das auch fürdermals in schaurigen Nacht- und Nebelaktionen um Allerheiligen
herum getan hatten. Das war kein Witz, Menschenskinder, die Toten verwesten ja
nicht, und deshalb war der Mariabronner Friedhof stockvoll. Und ein neuer
musste her mit besserer Durchlüftung, aber das Familiengrab blieb da, wo es
war. Schluss, aus. Andererseits. Die Leichen wurden nach Ablauf der Liegezeit
mit dem Bagger aus dem Sarg gerissen, in schlammige Teile zerhackt und
verrührt. Rosa würde also, sobald sie nachstarb, Qualberta in ihrer ewigen Ruhe
aufscheuchen und zerstückeln müssen. Vielleicht traf es Leopold mit, wenn der
Totengräber besoffen war und die Schaufel unbesonnen in den Grund stieß. Mit
katholischer Pietät hatte das Voraussehbare wenig zu tun. Rosa fragte sich zum
zig-sten Mal, ob sie das wirklich wollte und dafür zwei Dutzend Jahre lang die
horrende Pacht gezahlt hatte. (An die schöne Marthel verschwendete sie, was
bezeichnend war, in diesem Zusammenhang keinen einzigen Gedanken.)
Rainer Maria Rilke. Ihn hatte sie mitgenommen, als sie nach
dem Krieg vor dem heimkehrenden Bruder geflohen war. Karle hatte amerikanische
Zigaretten geraucht und behauptet, er sei jetzt Kommunist. Da blieb für sie
kein Platz mehr im Haus. Rosa legte das zerfledderte Buch auf den Tisch und
lächelte. Geschlagene 40 Jahre lang war sie Sekretärin in der
Rechtsmedizinischen Abteilung der Universitätsklinik Freiburg im Breisgau
gewesen. Qualifiziert war sie dafür nicht. Sie hatte acht Jahre Volksschule und
ein Haushaltungsjahr absolviert, nach dem Krieg war sie bei Lörrach in Stellung
gewesen. Vor dem kommunistischen Bruder, der daheim die Zügel wieder in die
Hand nahm, hatte sie sich in einen reformkostorientierten Arzthaushalt
gerettet. Qualberta tobte: Wer sollte auf dem Hof das Geschäft erledigen, das
Ochsengeschirr anlegen und die Kuh melken, wenn die Mannsbilder nichts zu tun
hatten, als beim Junghans drunten schaffen zu gehen? Sie war von jeher gegen
die Fabrik, und die Uhr, die dort gebaut wurde und die Fabrik regierte, war für
sie Teufelszeug. Lieber hörte sie auf die fernen Glocken des Stadtpfarrers, die
notorisch falsch gingen, weil der Messmer soff.
Vor den Ansprüchen der Familie war Rosa bis an die Schweizer
Grenze geflohen. Sie war bei körnerfressenden Kneippern gelandet, die Kontakte
hatten bis in die höchsten Kreise der Universität Freiburg. In Lörrach hatte
man ihr geraten, sich auf die Sekretärinnenstelle in der Rechtsmedizinischen zu
bewerben, weil ihr Onkel Franz-Ferdinand, der zur unendlichen Sippschaft der
Fixen gehörte, die den halben Friedhof mit Namen überzog, Totengräber gewesen
war. Auf sein Anraten hin hatte sie im Bombenkrieg geholfen, nach Luftangriffen
auf Stuttgart aufzuräumen und die Leichen zu bergen. Das sorgte massenhaft für
Begräbnisse, weil Franz-Ferdinand billig war. Er kam mit dem Pferdefuhrwerk vom
Land und lud alles auf. Rosa machte es nichts aus, aufgequollene, verbrannte,
zerfetzte Körperteile zu sortieren und auf Bahren zu legen. Sie störte sich
nicht an dem stechend süßlichen Gestank, der in alles hineinfuhr und mit
Kernseife nicht mehr abzuwaschen war. Eine Leiche war so giftig wie ein Wiener
Schnitzel oder ein Stück Schwarzwälder Speck. Rosa hatte ein unkompliziertes
Verhältnis zu ihrer Arbeit. Einem Zweimetermann hatte sie die Beine abgesägt,
um den übergroßen Leichnam in die Standardkiste zu klemmen. Also zog sie ihr
bestes Kleid an, nahm den Zug und rief, noch in der gepolsterten Tür des Ersten
Obduzenten, eines gewissen Professor Dr. Bernhard Tiberius: »Nehmt mich, ich
bin hemmungslos!«
Tiberius, der aus Berlin kam, war ein Mann der Tat: feist,
komisch, unbestechlich. Er war klein, kahl mit Hornbrille, und trug zum weißen
Kittel immer eine Krawatte. In seinem Regal standen mehrere Bücher von Sartre
und ein Gedichtband von Gottfried Benn. Daneben der Wachskopf einer
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