Totenkuss: Thriller
gut, ich werd mich drum kümmern.«
*
Das Häuschen besaß Küche, Bad und zwei Zimmer.
Es lag inmitten eines Olivenhains, am Ende des schmalen, überwachsenen
Feldwegs, der im rechten Winkel von der Passstraße abbog. Er war steil und
steinig. Nur mit einer sensiblen Strategie ließ sich der VW-Bus über den Buckel
wuchten, aber nach mehreren gescheiterten Versuchen hatte Hahnke es raus. Zwischen
Oleanderbüschen und verkrüppelten Obstbäumen stand der Wagen gut versteckt. Der
Hauseingang lag ums Eck, sodass man die Terrasse davor von der
gegenüberliegenden Hangseite aus nicht einsehen konnte. Sie war gefliest und
hatte ein Sonnendach aus schmalen Balken, um die sich Weinreben rankten.
Unterhalb einer Laube mit einer Feuerstelle war ein Pool. Auf dem Gelände
wuchsen Pinien, Säulenzypressen, Korkeichen, Kiefern, Rosmarin und Lavendel.
Nachts hatte Hahnke ein Stachelschwein gesehen, das durch das hohe, struppige
Gras trippelte, bis es direkt unter dem Fenster stehen blieb. Morgens lag dort
ein schwarzweißer Stachel, lang und spitz wie eine Sockenstricknadel.
Gegenüber, Luftlinie 300 Meter, lag das Anwesen, das Ludgers
Schwägerin an deutsche Aussteiger verpachtet hatte. Sie hielten Hühner und
unverschämt blökende, kötelnde Schafe. Menschen war er hier oben noch nicht
begegnet. Hahnke nahm an, dass er früher oder später Besuch bekommen würde, er
wollte sich auch selbst ein Bild von den Nachbarn machen; doch die ersten Tage
nutzte er, um die Wildnis zu erkunden. Er zog Ludgers schwarze Radlerhose an,
die er im Schrank gefunden hatte, nahm dessen orangerote Rennjacke und setzte
seinen silbernen Helm auf.
Bevor er losfuhr, genoss er den weiten Blick über das Panorama.
Das hügelige Naturschutzgebiet zwischen Lustignano und Lagoni del Sasso besaß
eine krautige, verstrubbelte Vegetation, die frühlingshaft strotzte: Felder und
Waldstücke wechselten sich ab mit Macchia. Hecken aus Erdbeerbaum, Christusdorn
und blühendem gelbem Ginster zogen sich die Hänge hinauf. Daneben betrieb man
Landwirtschaft. Angebaut wurde vor allem Wein, soweit Hahnke das erkennen
konnte. Zwischen den Olivenhainen gediehen diverse Traubensorten, ansonsten
diente die Landschaft mit ihren Wärmekraftwerken vor allem der
Energieversorgung. Sie wurde zerschnitten von einem Netz aus Rohren, Leitungen,
Transportwegen. Behausungen gab es wenige, nur vereinzelte Höfe waren bewohnt.
Der Rest verfiel, darunter ein herrschaftliches Gehöft aus massivem Stein,
dessen Dachstuhl kollabierte.
Pinien, Zypressen, Zikaden. Auf seinem schwarzen Peugeot-Rad
erkundete Olaf Hahnke die Umgebung, in Lago Boracifero kaufte er ein:
Eiertomaten, Parmesankäse, grüne Oliven, ungesalzenes Weißbrot und Wasser mit
Kohlensäure. Seit vielen Jahren, lange vor der Haft, trank er kein Bier und
keinen Wein mehr, überhaupt keinen Alkohol, vom Tee hatte er genug, Saft und
Kaffee mochte er wegen der vielen Säure sowieso nicht. Im Stehen trank er einen
Schluck aus der Flasche und genoss das Prickeln auf der Zunge. Er war 38 und
fühlte sich prächtig. Er war frei. Er konnte tun und lassen, was er wollte.
Alles war wunderbar leicht und einfach. Vor ihm lagen ungezählte Möglichkeiten.
Die Sonne floh hinter die Wolken. Leise ging ein Wind. Hahnke
verstaute die schwere Flasche im Rucksack und trat in die Pedale. Während er
sich keuchend die Serpentinen hinaufwand, fühlte er wohltuend den Schweiß. Er
liebte die Anstrengung, das Gefühl, sich bis an den Rand seiner Kräfte zu
verausgaben. Das gab ihm die Erlaubnis sich gehenzulassen. Er wollte in den Tag
hineinleben, im Liegestuhl liegen, im Pool baden und vergessen, was hinter ihm
lag, denn er hatte keine Lust, an die Jahre im Knast zurückzudenken, an die
Schikanen, die Misshandlungen, die Prügel der Mitgefangenen. Als Mädchenmörder
war er das Unterste gewesen, der Abschaum, der Dreck. Nur Joakim, der
Babyficker, war in der Hierarchie noch drunter gewesen. Hahnke hatte ihn
drangsaliert und erpresst. Ob Ludger ihn je gekannt hatte, wusste er nicht.
Vermutlich hatten sie nie etwas miteinander zu tun gehabt. Aber es hatte
funktioniert. Als Hahnke im Schuppen auf den zertrümmerten Rechner gestoßen war
mit dem gespaltenen Bildschirm, hatte er erkannt, dass hier Ludgers
verletzliche Stelle war. Was auch immer Ludger mit dem Computer angestellt
hatte, er wollte es vertuschen, der perverse Idiot.
Hahnke wollte alles hinter sich lassen, den Knast,
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