Totenkuss: Thriller
die
Verzweiflung, die Flucht, die Panik. Er wollte sich endlich entspannen. Er
freute sich auf Tage, die immer länger und wärmer wurden, denn noch war kein
Badewetter, aber das Wasser war schon eingelassen. Der winzige Pool wurde
versorgt mit dem Quellwasser aus dem Tank, der zum Glück bislang heil war.
Hahnke hatte überhaupt keine Lust, wie ein Kamel Wasser zu schleppen. Lieber
lag er in der Sonne, bräunte seine weiße Haut und las. Er hatte keine Ahnung,
wo er all die Bücher herkriegen konnte, die er lesen wollte. Unbekannte Bücher
voller neuartiger Ideen. Nicht Dostojewski oder Freud, das kannte er schon.
Ludger war ein geistiger Kretin. Er hatte neben ein paar ausgelutschten
Klassikern Harry Potter im Regal stehen und anderes pädophiles Zeugs.
Hahnke zog den Rotz hoch. Schnaufend erreichte er den Pass.
Auf einer Aussichtsplatte stand ein Tisch mit einer Holzbank. Vor ihm lag die
zerhackte Landschaft, ein zerklüftetes Meer aus Grüntönen. Es roch nach Blüten
und frischem Gras. Er stieg ab und lehnte das Rad an eine Steineiche. Wieder
trank er im Stehen aus der Flasche. Er pinkelte gegen einen Busch. Dann setzte
er sich, holte Brot und Käse heraus, brach kleine Brocken ab und fing an zu
vespern. Im Rucksack suchte er das Küchenmesser, mit dem er eine Tomate
aufschneiden wollte. Er legte es auf den Tisch. Das Tal herauf kroch ein Jeep.
Hahnke verfolgte, wie er um die Kurve fuhr und kurz verschwand. Als das
Geräusch des Motors näher kam, setzte er den Helm auf und verstaute die
Lebensmittel. Das Messer ließ er liegen.
Als der Jeep die Passhöhe erreicht hatte, sah Hahnke die Frau
am Steuer. Sie war allein und schaute zu ihm rüber. Er grinste. Der Jeep bog
ein in den Parkplatz. Die Tür flog auf, mit weiten Schritten rannte die Fremde
auf ihn zu. »Ludger? Ja, hallo. Mensch, grüß dich!«
Sie sprach Deutsch. Und sie war deutsch. Sie sah deutsch aus,
wie eine deutsche Schlampe, dachte Hahnke, figurlos und ungepflegt in ihrem
unförmigen khakifarbenen Overall und den Gummistiefeln, mit den mausfarbenen
schulterlangen Haaren, die ihr als fettige Fäden ums Gesicht wedelten. Das
musste eine von Ludgers Nachbarinnen sein. Margarete? Aber wie unzutreffend war
seine Beschreibung! Hahnke starrte sie an. Sie zerstörte mit einem Mal seine
neu gewonnene Freiheit, sie drang in seine Ruhe ein und verhöhnte ihn. Er war
nicht Ludger. Er war keine Schwuchtel, kein Kinderficker, keine pädophile Sau. Sie
grinste. Hahnke packte ein bebender Zorn. Das musste er der Fotze klarmachen.
Sein Blick fiel auf das Messer. Er nahm den Helm ab und stand auf.
Die Fremde blieb stehen und glotzte zurück. Sie starrte ihn
an. Dann sah sie das Messer, das auf dem Tisch bereitlag. Das dünnlippige
Lächeln gefror, und der Mund mit den schiefen braunen Zähnen schloss sich
wieder. »Sorry«, sagte sie, »scusi. Scusate. Scusate l’intrusione.«
»Wie schön, dass wir uns endlich begegnen. Sie sind doch die
Frau Moser?«, rief Hahnke und breitete die Arme aus. »Ludger hat mir viel von
Ihnen erzählt.«
Die Frau wich zurück. »Ja, ich bin Margarete. Aber warum
tragen Sie Ludgers Radlerklamotten? Und warum kommt er nicht endlich vorbei?
Elisa hat den Bus schon vor Tagen hochfahren sehen.«
»Ach, hat er Ihnen nicht Bescheid gesagt?« Hahnke legte
bedauernd den Kopf schief und gab Margarete die Hand. »Sagen Sie einfach Diego
zu mir. Das tun alle. Na ja, Ludger wollte diese Pfingsten mal was anderes
machen. Städtereise nach New York oder so. Er hat mir das Häuschen bis zu den
Sommerferien vermietet.«
Margarete taxierte ihn misstrauisch. Er verstand. Die
spießige Aussteigerin fragte sich stumm, ja, muss der denn nicht arbeiten?
»Ich bin Schriftsteller«, sagte Hahnke und lächelte.
»Na, dann willkommen in der Toskana. Und viel Erfolg beim
Schreiben.« Margarete nickte ihm zu und stapfte davon. Bevor sie in den Jeep
stieg und weiterfuhr, drehte sie sich halb um und warf einen zweifelnden Blick
zurück.
Olaf Hahnke stand neben dem Tisch und packte das Messer weg.
Die Fotze hatte ihn daran gehindert, seine Tomate zu essen. Ihm wurde bewusst,
dass es ein altbackenes Knastwort war. Fotze. Irgendwie tückisch. Man musste
aufpassen, dass man die richtigen Begriffe benutzte. Hahnke hätte tatsächlich
gern ein Buch geschrieben, dazu hatte er Ludgers Laptop. Er wollte die ganze
Geschichte aufrollen und wusste, dass er dazu nicht in der Lage war. Als er
sich aufs Rennrad
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