Totenkuss: Thriller
verfolgte, wie sich Ludger Sachs den
Film mit den Erstkommunionkindern ansah, zählte er zwei und zwei zusammen. Es
waren Buben. Neben dem Laptop lag links ein Stapel Schreiblernhefte, rechts
stand ein Foto von zwei halbwüchsigen Mädchen. Das war alles, was Hahnke
wusste. Mehr hatte er nicht in der Hand, er hatte Ludger Sachs nie gesehen. Wie
er hieß, las er an der Türklingel, dass er allein lebte, stand da quasi auch. Die
Idee mit Joakim kam Hahnke spontan, was sich als großartige Finte erwies. Als
Ludger sich in den VW-Bus schwang und ihm Papiere, Kreditkarte, Laptop und
Ferienhaus überließ, hatte er sich gefühlt wie ein König.
Nun beschlich ihn wie ein langsam wirkendes Gift der Zweifel.
Die Freiheit fühlte sich fremd an. Fast fünf Jahre war er hinter Gittern
gesessen. Seitdem hatte sich die Welt draußen noch mehr vernetzt. Die Wege
waren immer kürzer geworden, und die Chance, dass man ihn schnappte, war
immens. Vielleicht hätte er im Knast bleiben und seine Strafe ordentlich
absitzen sollen, anstatt zu beweisen, wie simpel es für einen Schwerverbrecher
war, aus Stammheim rauszukommen. Hahnke war immer noch überzeugt, dass er die
lebenslange Haftstrafe nicht abgesessen hätte. Er glaubte keineswegs an eine
anschließende Sicherheitsverwahrung, sondern dass er vorzeitig aus dem Vollzug
entlassen worden wäre, trotz der besonderen Schwere seiner Schuld, einer noch
ausstehenden Therapie und einer bislang schlechten Prognose. Julius Stern war
überhaupt nicht zufrieden mit ihm, was kein Wunder war, weil er ihn bis aufs
Blut provozierte. Hahnke spielte die intelligente Bestie, für die Stern ihn
hielt. Im Knast hätte er noch acht bis zehn Jahre Zeit gehabt, um sich auf
diese Weise eher dürftig als brillant zu unterhalten, ehe er vernünftig werden
musste.
Drei Morde waren ihm zur Last gelegt worden, und er hatte sie
gestanden. Er hatte sogar falsche Details zugegeben. Es hatte sich irgendwie
angeboten, Geschichten zu erfinden, er wusste nicht mehr, warum. Wenn man
anfing, die Wahrheit zu erzählen, entwickelte das schnell einen Sog; die
abenteuerlichsten Fragen wurden gestellt, auf die man bereitwillig einging, und
am Ende landete man bei einer total abstrusen Geschichte, mit der aber alle
zufrieden waren.
Hahnke versuchte, nach vorn zu blicken. Was brachte es, an
die Festnahme zu denken, an die Untersuchungshaft, den Prozess, den
Strafvollzug? Was nützte es, wenn er sich die Morde vor Augen führte, für die
er verurteilt worden war? Es waren nur drei Morde, und sie lagen Jahre
auseinander. Hahnke hatte vollständig vergessen, wie es zu den Taten gekommen
war und was er genau getan hatte. Es hätte auch ein anderer sein können, der
ihm das erzählt hatte, so undeutlich und fremd war das bruchstückhafte Wissen.
An die Einzelheiten, die er bei den Vernehmungen zu Protokoll gegeben hatte,
konnte er sich ebenfalls nicht mehr entsinnen, er konnte nur noch auflisten,
was in der Hauptverhandlung erörtert und dokumentiert worden war, und natürlich
kannte er das Urteil. Damit musste er leben, doch er war in erster Linie kein
Mörder. Die überwiegende Zeit seines Lebens hatte er sich mit völlig anderen
Dingen beschäftigt als mit Mord. Mit Musik, Kunst und Literatur. Im Gegensatz
zu Ermittlern wie Anita Wolkenstein, die es sich bei der Kripo zur beruflichen
Lebensaufgabe gemacht hatten, im Schmutz zu wühlen, in den Niederungen, in den
Untiefen der Dummheit. Die Kriminaloberrätin hatte ihn vor zwei Jahren in
Stuttgart-Stammheim besucht und den gleichen arroganten Idioten zu Gesicht
bekommen wie sonst Stern, der Kriminalpsychiater. Eine schöne Abwechslung, die
Nummer auch mal vor anderem Publikum zu spielen. Jetzt hatte Hahnke diese
primitive Form der Verzettelei nicht mehr nötig. Um nichts in der Welt wollte er
wieder in den Knast. Dort wurde ein Sadist pausenlos erniedrigt. Um nichts in
der Welt würde er in die Hölle zurückgehen, aus der er gekommen war.
Hahnke verfolgte, wie der Regen langsam nachließ. Feine Fäden
fielen vom Himmel, grau in grau. Der Hagel schmolz auf den Steinen. Er sah eine
Weile zu. Dann wandte er sich vom Fenster ab und ging eben zum Herd, als es
klopfte. Eine Frau pochte mehrmals an die Tür und rief mit schwankender Stimme:
»Diego, sind Sie da?«
Nach dem Mittagessen, es gab saure Kalbsleber
auf badischem Spargel und zum Nachtisch Erdbeerquark, holte Rosa die
Schramberger Polizei. (Kinzigtäler
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