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Totenkuss: Thriller

Totenkuss: Thriller

Titel: Totenkuss: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uta-Maria Heim
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Vermutlich waren es wechselnde Affären mit mehreren Frauen. So
oft wie möglich wurde ich nach Schramberg geschickt. Das war mir recht, weil
ich in der Schule keinen Anschluss hatte. Meine Freunde waren im Staighäusle,
und es waren allesamt Grundschüler. Ich ging schon in die sechste Klasse und
gab uneingeschränkt den Ton an.
    Als Treffpunkt der Bande diente uns Josfis Hof. Wir stiegen
über den Saustall ein, dessen Tür im Keller unter dem Abort lag. Sie hatte sich
leicht aufbrechen lassen. Eine Leiter führte nach oben zu einer Luke. Damit kam
man in einen verglasten Wintergarten. Der Schlüssel zur Küchentür steckte.
Drinnen war es unheimlich verdreckt und stinkig, es gab kein Wasser, keinen
Strom – nichts. Aber die verschlissene Kommode stand noch darin und
die Stühle, auf denen eine dicke Speckschicht glänzte. Der Küchentisch war
zugeschimmelt. Hannah, die nur mitmachen durfte, weil sie Martins Schwester
war, musste als Mutprobe die Küche putzen, die Stube und die Kammer. Sie musste
die Spinnhudeln entfernen, den Rattenkot, den Siff und die Scheiße, die Josfi
an die Wände geschmiert hatte. Sie musste auch die Böden schrubben und den
Abort. Das Wasser dafür holte sie aus dem Bach. Und am Ende sah es doch ganz
schön aus. Wir breiteten ein altes Laken über das fleckige Sofa in der Stube
und legten ein Tuch auf den Tisch. Darauf stellten wir eine Vase mit
Wiesenblumen. Die Idee kam von Fritz, denn der hat sich mit seinen Kumpels im
Bunker getroffen, und dort haben sie es genauso gemacht.
    Die Vorstellung, dass es irgendwo einen König gab, war
ziemlich genial. Denn wenn wir dessen Ritter waren, mussten wir seine Befehle
ausführen. Die konnten ziemlich grausam sein. Undenkbar, dass die Bande die
gleichen Hämmer durchgezogen hätte, wenn die Anweisungen einfach nur von mir
gekommen wären. Die meisten waren ja noch klein. Sie wären weggelaufen und
hätten vermutlich zu Hause alles erzählt. So aber mussten sie den Mund halten,
weil sonst der König gekommen wäre und sie gestraft hätte. Ich fürchte,
irgendwann haben wir alle ein wenig an den blöden König geglaubt.
    Auf die Sache mit dem König kam ich, weil ich in einer
Kommode in Opas alter Kammer einen Stapel vergilbter Zeitungsausschnitte fand
und Abschriften von Vernehmungen, Verhören, Obduktionsprotokollen und
Gerichtsakten. Zu diesem Material über einen Gewaltverbrecher und Serienmörder,
dem mein Großvater den Decknamen ›König‹ gegeben hatte, gesellten sich Dutzende
eng beschriebener Seiten. Josef Kern war von dem Fall offensichtlich besessen
gewesen, denn er hatte eine Vielzahl eigener Überlegungen und Analysen
angestellt, die über das Vorgefundene weit hinausgingen. Er hatte versucht,
sich in den Täter hineinzuversetzen, der 1959 im Schwarzwald eine dichte Serie von
Morden verübt hatte. Seine Opfer waren Frauen, meist noch sehr jung, die er
niederschlug, ausraubte, vergewaltigte, aufschlitzte, aus dem Zug warf,
erwürgte. Sein letztes Opfer kam aus der Nähe von Baden-Baden und war gerade
erst 16 Jahre alt geworden. Am 9. Juni 1959 vergewaltigte und erwürgte er das
Mädchen und versteckte die Leiche im Wald: Mit gespreizten Beinen und
aufgeschnittener Kleidung lag sie halb nackt und blutbesudelt auf dem Rücken.
    Der Serientäter wurde in Hornberg, wo er lebte, gefasst und
gestand 65 Straftaten, darunter vier Morde, sieben weitere Mordversuche, zwei
durchgeführte und 25 versuchte Vergewaltigungen, sechs einfache Diebstähle,
sechs Raubüberfälle und zehn Einbrüche. Sein Radius ging weit über den
Schwarzwald hinaus und reichte bis Bregenz und Schaffhausen. Im Oktober 1960
begann vor dem Landgericht Freiburg der Prozess. 38 Delikte, die er gestanden
hatte, kamen nicht zur Anklage, da er zum Tatzeitpunkt das 21. Lebensjahr noch
nicht vollendet hatte. Die Verfahrensgutachter erklärten den Angeklagten für
voll schuldfähig.
    Der König überzog den Schwarzwald von Februar bis Juni 1959
mit einer Welle von Gewalt. Josef Kern war zum Zeitpunkt der Berichterstattung
40 Jahre alt gewesen und voller beruflichem Ehrgeiz. Er wollte in Schramberg
Polizeichef werden, trotz brauner Vergangenheit. Erinnerte ihn die
Verbrechensserie an die Gräuel der Nazis? Wollte er Abbitte leisten für das,
was er im Faschismus mit verantwortet hatte, indem er sich in die Sache
hineinsteigerte und als Polizist hundertfünfzigprozentige Arbeit machte?
Versuchte er, weitere unaufgeklärte

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