Totenkuss: Thriller
ihren Brustkorb. Daher die Rippenbrüche. Sie
hat sich verzweifelt gewehrt. Es dauerte also relativ gesehen sehr lange, bis
der Tod eintrat. Fünf bis zehn Minuten.«
Fünf bis zehn Minuten. Fehrle sagte nichts.
Weil die Stille unerträglich wurde, hatte Anita dummes Zeugs
geredet: »Prostituierte werden laut Statistik überproportional oft erwürgt,
wohingegen zufällig ausgewählte weibliche Opfer eher erstochen werden …«
»Sie war aber keine Nutte«, hatte Fehrle erwidert, mit
polternder Stimme. Offenbar wurde ihm schlecht oder schwindlig. Er wirkte, als
sei er bekifft. Doch, Anita entsann sich genau. Spürte wieder das Befremden,
das sie im Auto überkommen hatte. Sie hatte versucht, aus ihm herauszuholen,
wie gut er Petra gekannt hatte. Er war ihren Fragen ausgewichen, und er klang,
als verlöre er gleich den Verstand. Anita hatte versucht, seinen Zustand zu
ignorieren und schob seine Schwäche auf eine generelle psychische Labilität.
Vielleicht war er drauf und dran gewesen, ein Geständnis abzulegen, das sie ihm
durch ihre Abwehr verweigert hatte. Weiter mochte Anita in diesem Augenblick
nicht denken. Noch nicht. Sie hatte Angst vor ihrer eigenen Unerschrockenheit.
Weil sie wusste, was es hieß, einen unbescholtenen Kollegen zu verdächtigen.
Sie fragte sich, wie sie weiter vorgehen sollte und wann es an der Zeit war,
jemanden ins Vertrauen zu ziehen. Wer konnte das sein? Der Gedanke, dass sie
rasch handeln musste, verdichtete sich zu einer dumpfen Gewissheit. Vielleicht
wollte Fehrle endlich überführt werden und gestehen. Oder aber sie irrte sich
und es fand sich eine andere Erklärung für sein seltsames Verhalten, diese
Mischung aus Übermotiviertheit und Entgleisung, die sie vor zwei Jahren schon
peinlich berührt hatte, was nun wieder hochkam. Und noch dringlichere Dinge
bereiteten ihr Kopfzerbrechen. Sie musste zusehen, dass sie ihre eigene Familie
da heraushielt. Was hatten Bonnie und ihre Mutter in Bardolino zu schaffen? Am
Pragsattel stieg Anita aus der Stadtbahn, überquerte die Straße und lief zum
Polizeipräsidium hinauf. Wieder griff sie zum Handy.
»Aber das ist doch ganz einfach, Mama«, sagte Bonnie auf ihre
unvermittelte Frage, was sie am Gardasee zu suchen hätten. »Wir fahren nach
Bardolino, weil Oma seit der Steinzeit immer mal wieder in diesem Luxusschuppen
absteigt. Und weil ich mich da am See mit meiner Freundin Lucy verabredet habe.
Du weißt doch, Lucy Sachs.«
Anita schluckte. »Gib mir mal bitte die Oma.«
»Was ist los?«, schmetterte Elfriede Dutschke. »Wir sitzen im
Zug.«
»Hör mal her, Mama«, unterbrach Anita Wolkenstein. »Die Welt
ist klein.«
»Was du nicht sagst.« Die Dutschke wieherte. »Und überall
sind Schwaben!«
»Hört Bonnie mit?«
»Nein, wieso denn. Sie hört Musik, und das bei dem Krach hier
drin.«
Anita redete laut und deutlich, damit ihre Mutter mitbekam,
was los war. »Bitte sag Bonnie nichts davon und lass dir nichts anmerken.
Erfinde eine Ausrede. Fahr einfach woanders mit ihr hin. Krieg einen
Herzkasper. Mach, was du willst. Aber geh auf keinen Fall nach Bardolino.«
»Aber warum denn nicht? Anita, spinnst du? Was sollte mich
denn jetzt um Himmels willen von meinen Plänen abhalten?«
Anita holte tief Luft. »Der Vater dieser Lucy, mit der Bonnie
sich da treffen will, ist Ludger Sachs. Er beherbergt in seinem Ferienhaus in
der Toskana möglicherweise einen Serienmörder.«
*
Die Bande hatte 13 Mitglieder. Das war zugleich
eine heilige und eine teuflische Zahl. Bis auf Hannah waren es nur Jungs. Ich
war der Boss, der alleinige Bestimmer. Ich war allen andern haushoch überlegen.
Das kam schon daher, dass ich der Älteste war. Mit zwölf konnte ich schon eine
Menge. Ich wusste, wie man im Ofen Feuer macht. Ich konnte ein Huhn oder einen
Hasen schlachten, ausnehmen und anbraten. Ich rauchte Zigarren, trank Schnaps,
onanierte, fuhr Auto und schoss mit dem Luftgewehr. Ich klaute Werkzeug und
brach in Wochenendhäuschen ein. Das meiste hatte mir Fritz beigebracht. Er tat
das nicht, weil er mich mochte. Sondern er zwang mich dazu, Dinge zu tun.
Nachdem er mich als Kind schikaniert und ausgeschlossen hatte, gab er mir in
der Jugend andauernd Prüfungen auf. Das bereitete ihm große Lust, und ich fing
an, das Muster zu übernehmen.
Während sich der Gesundheitszustand meiner Mutter
verschlechterte und sie immer mehr Zeit im Bett verbrachte, fing Vater ein
Verhältnis an.
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