Totenkuss: Thriller
Moment fühlte Barbara
sich geborgen. Das war ihre Heimat. Doch, die Gegend war picobello. Das Umland
auch. Trotzdem hatte Fehrle ihr nie verziehen, dass er wegen ihr ins
Elchenbachtal musste. Nie hätte er freiwillig hier gebaut. Er hasste das
Bischofsweilemer Neubaugebiet, in dem in seinen Augen bloß lauter Bio-Spießer
hausten, denen es im nächsten Stuttgarter Umland zu teuer war. Sie konnten sich
in Fellbach kein Holzhaus leisten. Sie flohen aus den Ballungszentren und
überschwemmten mit ihren Freizeitgeräten die Natur. Fehrle war geflohen vor der
Unzufriedenheit der keimenden Landbevölkerung, die pausenlos Schiss hatte vor
Pleite, Scheidung und Scharlach; vor Krebs, Neonazis und Schimmel an den
Wänden. Er war einfach abgehauen. Verdlaufen. Und nun hockte er in der alten
Hütte im Nachbarkaff, mutterseelenallein, weil der Dienstort Stuttgart als
Wohnsitz zu weit weg war. Obwohl es ihm von jeher zu viel gewesen war mit der
Familie, wollte Fehrle sich weiter um die Kinder kümmern. Aber eigentlich waren
weder sie noch war Barbara schuld. Und Fehrle hatte sich wirklich bemüht, mit
seinen psychischen Problemen fertigzuwerden. Es drehte sich halt alles um den
Vater. Manfred hatte, nachdem die Mutter nicht mehr war, so schnell abgebaut,
dass Barbara einfach nicht anders konnte. Sie musste sich um ihn kümmern, und
das ging mit zwei kleinen Kindern bloß, wenn man selber vor Ort war. Und nur
gut, dass Nathan und Jorinde die nächsten zwei Wochen versorgt waren. Bis dahin
hatte sie Manfred im Pflegeheim, so viel war sicher. Und das Haus war
ausgeräumt und der Maurer war bestellt, der im Erdgeschoss eine Wand rausreißen
sollte, damit es in der Küche bei der Vermietung heller und großzügiger zuging.
Barbara lief geschwind auf den Eingang zu und sah an den
Fenstern hoch. Drinnen im Haus war mal wieder kein Licht. Der Vater sparte am
Strom, weil er die meiste Zeit schlief oder den Lichtschalter nicht fand.
Außerdem hegte er den Wahn, Strom sei heutzutage unbezahlbar. Dass eine
brennende Glühbirne schier nichts kostete und auch für einen Rentner mit
Pflegestufe 3 finanzierbar war, kriegte man in seinen Schädel nicht mehr
hinein.
Sie schloss auf und roch gleich an der Tür den Gestank. Es
war eine stechende Mischung aus Schweiß, Urin, Staub, Dreck und ungelüfteten
Zimmern. Wenn der Vater im Krankenhaus war, versuchte Barbara regelmäßig,
diesen ranzigen, Brechreiz verursachenden Geruch zu vertreiben. Sie lüftete,
saugte die Matratze, wusch die Gardinen und schamponierte den Teppich. Es half
nur kurz. Sobald Manfred wieder da war, folgte ihm auf dem Fuß der Gestank. Was
mit daran lag, dass er sich ungern waschen ließ und bestimmte Körperstellen an
guten Tagen selber reinigen sollte. Aber das konnte nicht allein dafür
verantwortlich sein, dass es stank, zumal Barbara ihm den eingeseiften
Waschlappen in die Hand gab und mit zur Wand gerichtetem Blick wartete. Es
dauerte immer ewig, bis er fertig war, und hinterher roch er untenrum nach
Seife. Mit dem Gestank musste es noch etwas anderes auf sich haben. Offenbar
war es der Schatten vom Ende. Der Gestank kündigte den Tod an, da konnte man
saugen und putzen und schrubben, so viel man wollte. Wobei der Tod schon länger
lauerte und nicht kam. Der Vater war zäh.
Barbara ging geradeaus durch zum Hintereingang, drehte den
Schlüssel herum und lüftete. Im Hof blühte ein Walnussbaum. Sein Laub wirkte
noch schütter, doch die männlichen Kätzchen waren schon verblüht. Zehn
Zentimeter lange, phallusartige Zapfen hagelten in einem Windstoß zu Boden.
Darüber hinweg flogen im Zickzack Fledermäuse. Sie fingen Insekten. Barbara sah
ihnen eine Weile zu. Dann lief sie die Stiegen hinauf. Manfred hatte sein
Schlafzimmer immer noch im ersten Stock. Seit vorigem Jahr gab es den
Treppenlift, und an Tagen, an denen es Manfred vom Bett allein in den Rollstuhl
schaffte, fuhr er manchmal hinunter. Dann kam ein Anruf eines aufgeregten
Nachbarn, der den Vater mitten auf der Straße fand. Denn schlimmer als seine
Gebrechlichkeit war seine beginnende Demenz. Dass er im Kopf glasklar war, das
stimmte schon länger nicht mehr. Aber es fiel Barbara schwer, sich die
Veränderung, die in ihrem Vater vor sich ging, einzugestehen. Die Zeichen waren
deutlich. Seit einigen Wochen fühlte sich Manfred verfolgt. Er wurde geplagt
von einem peinigenden Misstrauen und einer galoppierenden Paranoia. Ab und zu
unternahm er
Weitere Kostenlose Bücher