Totenkuss: Thriller
unwahrscheinlich, dass er
an den Tatort zurückgekehrt ist. Täter, die ihre Opfer bedecken, wollen ihre
Tat so schnell wie möglich verdrängen. Vielleicht ist es die Ersttat eines
Serienmörders. Der Täter wollte es wieder tun, und zwar auf genau die gleiche
Weise. Er zog die Befriedigung aus Umständen, die nicht unmittelbar zu Petras
Tod führten. Diese Begleiterscheinungen wären für die Ermittler interessant
gewesen, wenn wir das Opfer am Tatort aufgefunden hätten. Das wusste der
Mörder. Er wollte nicht als Wiederholungstäter erkannt werden. Deshalb musste
er die Tote verschwinden lassen.«
Ich kenne Timo Fehrle
nicht, obwohl er aus Schramberg stammt und ungefähr mein Jahrgang ist. Zwar
kann ich mich nicht mehr an alle Buben aus der Bande erinnern, aber da war kein
Timo dabei. Das wüsste ich. Im Übrigen stimmt fast alles, was er über den
Tathergang herausgefunden hat. So könnte es ungefähr gewesen sein. Timo Fehrle
ist ein guter Polizist. Ich kann mir vorstellen, dass er sich sehr viel stärker
für mich interessiert als ich mich für ihn. Trotzdem habe ich ihm nichts zu
sagen. Für die drei Morde, die ich begangen habe, wurde ich rechtskräftig
verurteilt. Einen weiteren Fall gibt es nicht. Die sogenannte Ersttat fand nie
statt. Ich habe Petra Clauss nicht getötet. Also habe ich auch keinen Mord zu
gestehen.
Zungenrede 2: Er ist hinter dir her, der Alte, weil er
angenommen hat, du seist wieder unartig und triebst im Wald was Verbotenes. Was
solltest du dort denn tun? Etwa gegen die Bäume schlagen? Dauernd hat man dir
was unterstellt. All Hack [12] bist du geschurigelt worden. Der Tyrann hat dich schikaniert. Und du hast dir
geschworen, irgendwann zahlst du es ihm heim. So kommt er dir nicht davon. Aber
noch war die Zeit dafür nicht reif. Sie wurde nie reif, weil er vorher
wegstarb. Du konntest ihn getrost vergessen, aber das hast du damals nicht
gewusst. Du bist also immer tiefer hinein in den Wald. Und er hinterher. Im
Nacken konntest du quasi seinen verfaulten Atem spüren. Du hattest eine
gewaltige Wut. Dann sahst du auf der Lichtung das Mädchen. Sie setzte sich auf
einen Mantel, und auf einem Tuch breitete sie ein kleines Picknick aus: eine
Flasche Rotwein, zwei Gläser, Erdbeeren und Chips. Du sprachst sie an, sie
antwortete patzig. Dann hast du dich im Gestrüpp versteckt. Der Alte kam. Du
konntest jedes Wort verstehen, das sie redeten. Er fragte sie, was sie da
mache. Sie lachte ihn aus. Es ging gegen Abend, die Sonne war untergegangen,
und die Dämmerung senkte sich über den Wald. Die Farben traten unwirklich hell
hervor, die Konturen schärften sich, als bäumten sie sich ein letztes Mal auf
gegen die Nacht, die unaufhaltsam hereinbrach. Der Alte fragte wieder und
wieder. Schließlich sagte sie, dass sie sich mit ihrem Vater treffe, ihrem
wirklichen Vater. Heimlich an diesem unheimlichen Ort. Denn sei das etwa nicht
der Wald, durch den der Ortsgruppenleiter die Zigeuner getrieben habe? »Du
lügst«, schrie der Alte, »du wartest auf meinen Enkel. Aber das lass ich nicht
zu, dass er sich mit so einer einlässt, mit einem Judenmensch!«
Du hast nicht gewusst, dass sie eine Jüdin ist. Niemand
von euch Buben hat das gewusst. Sie war doch katholisch. Und du bist
erschrocken, ja, dass es immer noch Juden gab, aber du konntest nichts damit
anfangen, und du entsinnst dich, dass du dich fortstahlst innerlich, weg aus
der Situation, während du weiter in den Büschen hocktest, du hast dich gefühlt,
als seiest du nicht mehr da, und bist doch weiterhin Zeuge gewesen. Der Alte
fluchte und blickte sich um. Sie sagte, sie habe mich nirgendwo gesehen. Sie
lud ihn ein, auf dem Mantel Platz zu nehmen und ein Glas mit ihr zu trinken.
Bis der Vater komme, könne es dauern, wenn er überhaupt komme, denn das sei
nicht sicher. Also könne er genauso gut mit ihr anstoßen auf die Verbrechen,
die er begangen habe und von denen sie wisse, weil es jeder wisse am Ort. »Du
bist ein Nazi«, sagte sie, »und ich bin ein dreckiges Judenmensch. Da haben wir
doch eine Geschichte zusammen.«
Du konntest es nicht fassen, aber der Alte hockte sich doch
tatsächlich auf den Boden, nicht auf den Mantel, das nicht, aber auf die Erde,
und sie nahm ein Schweizermesser, an dem ein Korkenzieher war, und entkorkte
die Flasche. Sie schenkte ein, sie prosteten einander zu, sie tranken.
Schockiert hast du den Rückzug angetreten. Die beiden haben
nicht darauf
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