Totenkuss: Thriller
ging sie ins Bad und putzte sich
die Zähne. Sie fing an, sich Sorgen zu machen. Oma Elfriede hatte vorgehabt, um
halb elf wieder im Hotel zu sein.
*
»Anita?«
»Hallo, Mama! Ich weiß, es ist spät. Wie geht es dir? Was
macht Bonnie?«
»Sie schläft. Uns geht es gut.«
»Wirklich?«
»Es ist alles in Ordnung.«
»Ach, Mama. Wo bist du überhaupt?«
»Auf dem Weg ins Hotel. Ich hatte noch ein paar Dinge zu
erledigen.«
»Hast du den Timo getroffen?«
»Fehrle. Unter anderem, ja.«
»Was macht er für einen Eindruck?«
»Keinen guten.«
»Und sonst?«
»Nichts.«
»Du weißt, wo Olaf Hahnke ist, stimmt’s?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Du hast mit ihm geredet.«
»Nein!«
»Mir reicht’s. Und jetzt pass auf. Ich schmeiß meinen Job
hin.«
»Was?«
»Ich quittier den Dienst!«
*
Zungenrede 1: Irgendwas war aus dem Ruder
gelaufen. Es hing mit dem König zusammen. Pommerenke. Heinrich Pommerenke hieß
er, und sein Leben war nicht glücklich. Eigentlich war er immer der Depp
gewesen, das sagte er selbst. Ich hockte im Dreck bei der Josfi und studierte,
was man über ihn und sein Leben wissen konnte. Viel war es nicht. Kein Vater,
Schläge, eine schreckliche Kindheit. Ganz anders als bei mir. Meine Kindheit
war nicht schrecklich. Sie war bloß leer. Aber wir waren beide herumgestoßen
worden, der König und ich. Hin- und hergeschickt zwischen Mutter und Oma. Meine
Großmutter hatte für mich überhaupt kein Gesicht. Sie verschwand hinter Josef.
Das fand ich furchtbar, so ein Nichts. Mich faszinierte, dass ein Mörder rein
aus seinen Taten bestand. Dass er sich also quasi selbst erfinden konnte. Indem
er bestimmte Entscheidungen traf und sie in die Tat umsetzte. Ein Leben aus
Blut. Natürlich klingt das arg naiv, aber ich war damals erst 14.
Es war am 5. Mai 1984, an einem Samstag. Den Tag über war
es, glaube ich, recht warm und sonnig gewesen, und ich entsinne mich an den
Geruch von Bärlauch und das Geschrei der Amseln. Dass ich Petra am Abend im
Wald traf, war Zufall. Ich weiß nicht, was sie dort wollte. Sie hat gesagt, sie
würde Gänseblümchen pflücken, aber da waren keine. Ich glaube, sie hat auf
jemanden gewartet. Im Arm hatte sie einen grauen Mantel, einen Lodenmantel, der
zu groß für sie war. Er gehörte einem Mann. Vielleicht ihrem Vater. Der trug
solche feinen Mäntel.
Eineinhalb bis zwei Wochen nach ihrem Tod wurde Petra
Clauss am Tatort von einer schockierten Joggerin mehrfach fotografiert. Da war
sie mit dem Mantel bedeckt, aber trotzdem konnte die Polizei einiges erkennen.
Wegen der frühsommerlichen Temperaturen sei die Leiche schon stark verwest
gewesen, hieß es. Vor zwei Jahren, als die alten Fotos plötzlich auftauchten,
sprach die Polizei von Emmentalergehirn, Fliegenmaden, Käferbefall und
Ameisenfraß. Ich habe den Zeitungsartikel aufgehoben. Das Mädchen sei mit vielen
Einstichen im Hals-, Brust- und Bauchbereich vermutlich mit einem Messer
getötet worden. Dafür sprächen der starke Blutverlust und die Bauchlage. Vorher
sei sie stranguliert worden. Der Täter habe sich dabei möglicherweise auf ihren
Brustkorb gesetzt, da mehrere Rippen gebrochen gewesen seien. Er habe sie
gewürgt und ihr eine Schlinge um den Hals gelegt. Post mortem habe er den
Schädel mit einem stumpfen Gegenstand traktiert. Eine nur schwach unterblutete
Wunde im Schläfenbereich deute darauf hin, dass Petra Clauss zu dem Zeitpunkt
schon tot gewesen sei. Dass das Gesicht quasi in den Sand eingedrückt wurde,
weise auf weitere Schläge hin, lasse sich aber auch symbolisch interpretieren.
Das Opfer wurde unkenntlich gemacht und mit dem vom Täter abgewandten Kopf
liegen gelassen. Fachmännisch sei die Zerteilung der Leiche laut Aktenlage
nicht vor sich gegangen. Möglicherweise sei sie später jedoch nicht von einem
Stümper in drei Teile geteilt worden, sondern von Aasvögeln, Ratten, Mäusen,
Füchsen oder Wildschweinen. Ein Kriminalbeamter, Hauptkommissar Timo Fehrle vom
Polizeipräsidium Stuttgart, war in diesem Zusammenhang ausführlich zitiert
worden: »Ich schließe auf den Tathergang aufgrund der auf den Fotos sichtbaren
Blutspuren. Das tote Mädchen liegt in einer Lache. Die Schläfe dagegen ist
unblutig. Mehr ist nicht festzustellen. Die Tatwaffe ist reine Spekulation. Das
Opfer ist von den Schultern bis über die Waden zugedeckt. Falls der Täter sie
selbst mit dem Mantel bedeckt hat, halte ich es für
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