Totenkuss: Thriller
geachtet, dass Äste knackten. Im Schutz der Dunkelheit bist du
ausgebüxt, aufgewühlt, irritiert. Verstört hast du dich die ganze Nacht lang
versteckt. Auf einem Heubarn hast du dich gewälzt. Und als der Morgen dämmerte,
bist du an die Lichtung zurückgekehrt. Dort hast du Petra gefunden. Du hast
gesehen, wie sie dort lag, mit Würgemalen, das Gesicht im Sand, erstochen mit
dem Messer. Der zerbrochene Flaschenhals steckte noch in ihrer Schläfe. Du bist
zurückgewichen und hast dich im Waldsaum verkrochen. Da kam ein Landstreicher
mit einem vollgepackten Fahrrad. Er lehnte es an einen Baum, zog sich Schuhe
und Strümpfe aus, näherte sich langsam und wie auf Zehenspitzen der Leiche,
befreite sie von der Flasche und dem Messer und bedeckte sie mit dem Mantel,
der im Gras lag.
Zungenrede
3: Er war Jahrgang 1919, sie 1969, ein halbes Jahrhundert jünger also; er war
Ortsgruppenleiter und hat sogenanntes unwertes Leben ins Konzentrationslager
geschickt, und ihre Familie, die wo jüdisch war, hat das irgendswie überlebt.
Freilich war der Kernen Josef nicht der einzige Obernazi gewesen im Ort, auch
wenn das später so hingestellt wurde, weil viele ihm neidig waren auf seinen
Aufstieg bei der Polizei. Nehmen wir den Fehrle Alfons, den Großvater von
unserem Kripokommissar, den überzwerchen Seckel. Der war auch ganz vorn dabei.
Das kann mir persönlich gleich sein, so lang, wie der schon hin ist, der Josef
dito, aber ich glaub, ich weiß heute, wie es seltmals gewesen ist.
Da zieht’s dir doch die Schuh aus mitsamt den Socken, und
dann stehst du barfuß in den Gamaschen. Bringt mir doch die Julia vom
Staighäusle zwei Kisten voller Zeugs über Heinrich Pommerenke. Sie ist da
eingestiegen bei der Rosa, weil die über Internet ungesundes Zeugs
recherchiert. Die Julia hat geglaubt, das hat mit unserem Sach zu tun. Hat es
aber nicht oder hat es doch. Denn da sind wir jetzt im Vorteil. Wir haben
endlich etwas in der Hand.
Das ganze Zeugs hat der Kernen Josef zusammengesammelt, wer
sonst. Das war nicht nur Diensteifer. Der musste einen schlimmen Vogel gehabt
haben, wenn du mich fragst, Marthel. Irgendswie könnte ich mir vorstellen, dass
er’s war. Ich trau’s ihm zu und dem Alfons auch. Der ist völlig plemplem aus
dem Krieg heimgekehrt. Das wär’ freilich allein noch kein Grund, aber erklären
kann man so was sowieso nicht. Verwahrlosung, Verrohung, was sonst.
Dialektischer Materialismus, Marthel. These: Die beiden alten Quälgeister haben
zusammengearbeitet. Einer allein hat die drei Koffer nicht in den
Rosensteinpark geschafft. Antithese: Unser Kommissar und sein Serienmörder
wissen davon. Synthese: Das kommt nie raus. Familiengeheimnis, Mensch. Wenn das
ans Licht käme, wären beide Sippschaften, die Kernen und die Fehrles, bis auf
die Knochen blamiert. Erledigt. Ne wohr, so ist das, oder hast du eine bessere
Erklärung? Und wenn du mich jetzt fragst, wem nützt das, dann stell ich die
Gegenfrage: Was brennt am Holz? Das Gas, Marthel.
*
An Pfingsten züngeln die Flammen. Ludger Sachs
erwachte in einem Meer pinkfarbener Pfirsichblüten. Er lag im Schlafsack in
seiner Hängematte und strich sich über seine stoppelige Glatze. Die Sonne ging
auf, die Luft war kühl und das Gras vom Tau benetzt. Es war ein Augenblick von
großer Klarheit. Die Vögel hatten aufgehört zu singen, für einen Moment war es
still. Bis auf das vertraute Brummen der Wärmekraftwerke, das sich als Folie
über die von Rohren durchkreuzte Landschaft legte. Ludger lauschte. Durchs
offene Fenster hörte er regelmäßige Atemzüge. Drinnen im Haus schliefen die
Mädchen.
Er war fort. Diego hatte das Weite gesucht. Ludger war
unsagbar erleichtert. Es hatte ihn den alten VW-Bus gekostet, seinen Laptop und
eine Fensterscheibe. Das konnte er verschmerzen. Die Kreditkarte würde er
sperren lassen und den Verlust seiner Papiere anzeigen. Ludger nahm an, damit
war die Sache für ihn erledigt. Den Rest der Geschichte begriff er nicht.
Margarete hatte ihn auf dem Handy angerufen, als er schon in Italien war. Ein
komischer Kauz namens Diego habe bei ihm gehaust, und dann habe sich
herausgestellt, das sei ein Serienmörder. Er sei aus dem Gefängnis
ausgebrochen. Ihre Mutter sei aufgekreuzt und habe ihn stellen wollen, da sei
er mit Ludgers VW-Bus geflüchtet. Vorher sei es zu einer Schießerei gekommen
und er habe sie dabei am Hals verletzt. Vermutlich ein Streifschuss. Irmtraud
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