Totenmal
musste sie doch wissen, dass Geduld nicht seine Stärke war.
Malbek atmete tief durch, stellte sich in den Schatten eines Baumes in der Nähe der Kirchentür. Wie er gehofft hatte, war es hier menschenleer. An drei der alten Häuser auf der gegenüberliegenden StraÃenseite standen Firmenschilder, ein Architekturbüro, eine Anwaltskanzlei und eine Zahnarztpraxis.
An einem Fenster im ersten Stock der Anwaltskanzlei zog eine Frau ruckartig einen Vorhang zu. Aus dem Architekturbüro beobachteten ihn zwei Männer. Vielleicht dachten sie alle, er würde nach freien Gewerberäumen suchen. Oder ein lohnendes Einbruchobjekt ausbaldowern.
Malbek betrachtete die Ziegel in der Kirchenwand neben ihm. Einige der Ziegel an diesem Kirchenbau waren während der vergangenen achthundert Jahre ausgewechselt worden. Man erkannte sie an den helleren Schattierungen. Je nachdem, aus welchem Jahrhundert sie stammten.
Aber diese hier, diese durchfurchten schwarzroten, die mussten schon fast ein Jahrtausend in der Wand stecken. Jeder einzelne Stein trug ein Gesicht. Oder schlicht eine Fratze. Elend, Schmerz, Not, Freude, Gehässigkeit und vieles mehr las Malbek darin. Das war ihm schon als Kind klar gewesen, dass jede Kirchenwand von den Menschen erzählte, die an ihr vorbeigegangen waren.
Er spielte einen Moment mit dem Gedanken, in die Kirche zu gehen und seinen Erinnerungen nachzuhängen. Als Kind hatte er in den Bänken dieser Kirche neben seiner Mutter gesessen und seinem Vater zugehört, der eine Krankheitsvertretung für »den Rendsburger«, wie er den Rendsburger Pastor genannt hatte, an Ostern machte.
Als sie wieder auf dem Rückweg nach Schleswig waren, hatte seine Mutter dem Vater gesagt, dass der Propst in abgewetzter StraÃenkleidung auf einer der hinteren Bänke gesessen hätte. Sein Vater hatte aufgelacht und gesagt: »Er hatte Angst um seine Schäflein.« Sein Vater war wegen seiner Predigten berüchtigt. Mit Ungehorsam auf die unerbittlichen Worte Gottes antworten, das war seine Lehre. Dabei wurde er selbst zum Unerbittlichen.
Malbek wählte Dr. Brotmanns Handynummer.
»Hallo, Herr Malbek, ich wollte Sie gerade anrufen. Ich bin zwar heute Morgen schon mit der Obduktion fertig gewesen, musste dann aber zu einem Gerichtstermin als Sachverständiger nach Lübeck. Ich war spät dran, und die Strecke zieht sich â¦Â«
»Ich weië, sagte Malbeck gedehnt.
Er hatte in Neumünster und in Lübeck seine Haft abgesessen. Dr. Brotmann schien das entfallen zu sein, sonst hätte er nicht so unbefangen über »die Strecke, die sich zieht«, geredet. Es war damals ein geflügeltes Wort im Bau. Frage: Wie lange hast du noch? Antwort: Die Strecke zieht sich. Aber Dr. Brotmann war nach Malbeks Einschätzung ein Gutmensch, der Gehässigkeiten hasste.
»Ich habe keine Hähnchenkeule und keinen Salat vor mir, sondern die Mauern der St.-Marien-Kirche in Rendsburg. Ich bin also gewappnet für Ihre Informationen.«
»Erinnere ich mich richtig, dass Sie der detaillierte Modus Operandi des Täters interessierte, um daraus etwas über dessen Motivation herzuleiten?«
»Korrekt!«
»Hatte ich Ihnen schon gesagt, dass das eine der schwierigsten Fragen ist, die mir je gestellt wurden?«
»Ich glaube nicht.«
»In meinem schriftlichen Gutachten werde ich das Für und Wider darlegen. Wollen Sie jetzt meine kurze oder eine detaillierte Stellungnahme?«
»Kurz und knapp. Das reicht im Moment. Sie wissen, wie sehr ich Ihren Sachverstand schätze.«
»Danke. Das wäre nicht nötig gewesen, aber ich höre es immer wieder gerne.«
Malbek hörte, wie Brotmann unterdrückt gluckste.
»Sie wollten wissen, ob der Täter das Opfer zunächst mit einem Schlag nur leicht betäubt hat, um dann, wenn das Opfer langsam wieder zu Bewusstsein kommt, den Nagel in die Hand einzuschlagen?«
»Ja.«
»Es spricht wenig dagegen und viel dafür. Ich neige zu der Auffassung, dass die Handverletzung nicht postmortal ist. Und dass die erste Kopfverletzung lediglich betäuben sollte. Ein kurzer Schlag auf den Hinterkopf. Ich habe den Eindruck, dass der Täter sich mit diesem Handwerk auskennt.«
»Daraus schlieÃe ich, dass der Täter vor allen Dingen eine Botschaft an das Opfer hatte. Es sollte fühlen und sehen, wie der Nagel in die Hand getrieben wird. Wobei dem Täter
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