Totenmontag: 7. Fall mit Tempe Brennan
hatte?
Wieder fragte ich mich, was eigentlich los war.
Und warum ich mich aufführte wie Doris Day in einer ihrer Schmonzetten.
»Doris, du blöde Kuh«, sagte ich laut.
Birdie hob den Kopf, verkniff sich aber einen Kommentar.
»Und Andrew Ryan, du Blödmann.«
Ich kehrte ins Bad zurück und legte das Revlon auf.
Das Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Médecine Légale belegt die beiden oberen Stockwerke des Édifice Wilfrid-Derome, ein T-förmiges Gebäude im Bezirk Hochelaga-Maisonneuve, knapp östlich des Centre-ville. Das Bureau du Coroner, das Büro des Leichenbeschauers, befindet sich im elften Stock, die Leichenhalle ist im Keller. Die übrigen Etagen gehören der SQ.
Um acht Uhr fünfzehn füllte sich der zwölfte Stock eben mit Männern und Frauen in weißen Kitteln. Einige grüßten mich, als ich meine Kennkarte ins Lesegerät steckte, zuerst im Foyer, dann an der Glastür, die den gerichtsmedizinischen Flügel vom Rest des T trennt. Ich erwiderte ihre » Bonjours « , ging aber direkt weiter zu meinem Büro, da ich keine Lust auf eine Unterhaltung hatte. Ich war noch immer durcheinander wegen der abendlichen Begegnung mit Ryan. Oder besser Nichtbegegnung.
Wie in fast allen gerichtsmedizinischen Instituten beginnt jeder Arbeitstag im LSJML mit einer Besprechung des wissenschaftlichen Personals. Ich hatte kaum den Mantel ausgezogen, als das Telefon klingelte. Pierre LaManche. In der Nacht war ziemlich viel los gewesen. Der Chef wollte so schnell wie möglich anfangen.
Als ich das Konferenzzimmer betrat, saßen nur LaManche und Jean Pelletier am Tisch. Beide richteten sich halb auf, wie ältere Männer es tun, wenn eine Frau den Raum betritt.
LaManche erkundigte sich nach dem Pétit-Prozess. Ich sagte ihm, dass meine Zeugenaussage gut gelaufen sei.
»Und die Bergung vom Montag?«
»Bis auf eine leichte Unterkühlung und die Tatsache, dass Ihre Tierknochen sich als drei Personen erwiesen, lief auch die gut.«
»Fangen Sie mit Ihrer Untersuchung heute an?«, fragte LaManche in seinem Sorbonne-Französisch.
»Ja.« Ich erwähnte nicht, was ich ausgehend von meiner flüchtigen Untersuchung im Keller bereits befürchtete. Ich wollte erst sicher sein.
»Detective Claudel hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass er heute um halb zwei vorbeikommt.«
»Da wird Detective Claudel sich aber lange gedulden müssen. Zu der Zeit habe ich ja gerade einmal angefangen.«
Als ich Pelletier etwas brummen hörte, schaute ich in seine Richtung.
Pelletier war LaManche zwar unterstellt, aber ein ganzes Jahrzehnt länger im Institut als sein Chef. Er war ein kleiner, stämmiger Mann mit dünnen grauen Haaren und Tränensäcken so groß wie Makrelen.
Pelletier war ein eifriger Leser des Journal. Ich wusste, was jetzt kam.
» Oui. « Pelletiers Finger waren von einem halben Jahrhundert Gauloises Rauchen gelb verfärbt. Einer davon deutete auf mich. » Oui. Dieser Blickwinkel ist schmeichelhafter. Betont Ihre wunderschönen braunen Augen.«
Zur Antwort verdrehte ich meine wunderschönen braunen Augen.
Als ich mich setzte, kamen Nathalie Ayers, Marcel Morin und Emily Santangelo dazu. » Bonjours « und » Comment-ça-vas « wurden ausgetauscht. Pelletier machte Santangelo ein Kompliment zu ihrer Frisur. Ihre Miene deutete darauf hin, dass dieses Thema besser nicht angeschnitten werden sollte. Sie hatte Recht.
Nachdem LaManche die Liste mit der Tagesordnung verteilt hatte, begann er mit der Diskussion und der Zuweisung der Fälle.
Ein Siebenundvierzigjähriger war erhängt an einem Querträger in seiner Garage in Laval gefunden worden.
Ein Vierundfünfzigjähriger war nach einem Streit um übrig gebliebene Würste von seinem Sohn erstochen worden. Mama hatte die Polizei von St. Hyacinthe gerufen.
Ein Einwohner von Longueuil war mit seinem Geländewagen auf einer Landstraße im Gatineau in eine Schneeverwehung gefahren. Alkohol war im Spiel.
Ein getrennt lebendes Ehepaar war erschossen in einem Haus in St. Leonard gefunden worden. Zwei Kugeln für sie, eine für ihn. Der Ex in spe verließ diese Welt mit einer Neun-Millimeter Glock im Mund.
»Wenn ich dich nicht haben kann, kriegt dich auch kein anderer.« Pelletiers Gebiss klapperte beim Sprechen.
»Typisch.« Ayers’ Stimme klang verbittert.
Sie hatte Recht. Wir hatten dergleichen schon zu oft gesehen.
Hinter einer Karaoke-Bar in der Rue Jean-Talon hatte man eine junge Frau gefunden. Vermutet wurde eine Kombination aus Überdosis und
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