Totenmontag: 7. Fall mit Tempe Brennan
Kärtchen mit meinen Kürzeln. LSJML 38 426. LSJML 38 427. LSJML 38 428. Ossements. Inconnu. Knochen. Unbekannt.
Normalerweise hätte ich die Fälle der Reihenfolge nach bearbeitet und eine Analyse komplett abgeschlossen, bevor ich mich der nächsten zuwendete. Aber Detective Charmebolzen hatte sich für halb zwei angekündigt. Und da ich Claudels Ungeduld kannte, beschloss ich, die übliche Verfahrensweise zu umgehen und für jedes der Skelette eine schnelle Altersschätzung anzustellen.
Das war ein Fehler, den ich später noch bereuen sollte.
Aus drei Edelstahltüren holte ich die Knochen, die ich bereits im Keller dieser Pizzabude vor Augen gehabt hatte, und schob sie in Autopsieraum vier.
Nachdem ich die relevanten Informationen in ein Fallformular eingetragen hatte, fing ich mit 38 426 an, den Knochen aus Dr. Energy’s Kiste.
Zuerst der Schädel.
Grazile Muskelansätze. Gerundeter Hinterkopf. Kleine Warzenfortsätze. Glatte supraorbitale Wülste, die in scharfen Augenhöhlenrändern endeten.
Ich wandte mich dem Beckenknochen zu.
Breite, ausgestellte Hüftschaufeln. Verlängerter Schambeinanteil mit einem winzigen, erhöhten Grat auf der Bauchseite. Stumpfer subpubischer Winkel. Breite Incisura ischiadica, die Einbuchtung der hinteren Sitz- und Darmbeinkante.
Ich kreuzte diese Merkmale auf der Seite »Geschlechtsbestimmung« an und notierte meine Schlussfolgerung.
Weiblich.
Ich wandte mich dem Abschnitt »Altersbestimmung« zu. Mir fiel auf, dass die Basilarnaht, die Trennlinie zwischen dem Hinterhauptsbein und dem Keilbein an der Schädelbasis, erst vor kurzem verschmolzen war. Das zeigte mir, dass es sich um ein Mädchen von etwa fünfzehn bis neunzehn Jahren handelte.
Zurück zum Becken.
In der Kindheit ist jede Beckenhälfte zusammengesetzt aus drei voneinander getrennten Elementen, dem Darmbein, dem Sitzbein und dem Schambein. In der frühen Pubertät verschmelzen diese Knochen zur Hüftpfanne.
Dieses Becken hatte die Pubertät bereits hinter sich.
Ich bemerkte Furchen auf der Schambeinfuge, der Stelle, wo die beiden Beckenhälften in der Mitte aufeinander treffen. Ich drehte den Knochen um.
Der obere Rand der Hüftschaufel zeigte Wellenlinien, was darauf hindeutete, dass die Ausformung des Knochenabschlusses noch nicht vollendet war. Wellenlinien waren ebenfalls auf dem Sitzbein zu erkennen, in der Nähe der Stelle, auf die der Körper sich beim Sitzen stützt.
Ich spürte eine mir nur allzu vertraute Kälte im Bauch. Ich würde noch die Zähne und die Röhrenknochen untersuchen, aber alle Indikatoren stützten meine ursprüngliche Vermutung.
Die Knochen aus der Kiste hatten einem Mädchen gehört, das bei seinem Tod zwischen fünfzehn und neunzehn Jahren alt gewesen war.
Ich legte 38 426 auf den Karren zurück und wandte mich den Knochen zu, die ich von 38 427 herausgesucht hatte. Dann 38 428.
Die Welt zog sich in eine andere Dimension zurück. Telefone. Drucker. Stimmen. Karren. Das alles verschwand. Nichts existierte mehr außer den zerbrechlichen Überresten auf meinem Tisch.
Ich arbeitete die Mittagspause durch, und mit jeder neuen Entdeckung wurde meine Traurigkeit größer.
Man wirft mir oft vor, dass ich den Toten mehr Herzlichkeit entgegenbringe als den Lebenden. Doch dieser Vorwurf trifft nicht zu. Ja, ich trauere um diejenigen, die auf meinem Tisch landen. Ich bin mir aber auch sehr schmerzlich des Kummers bewusst, der ihre Hinterbliebenen befällt. Dieser Fall war keine Ausnahme. Ich hatte großes Mitgefühl für die Familien, die diese Mädchen geliebt und verloren hatten.
Exakt um halb zwei klingelte das Telefon. Ich zog die Maske ab und ging zum Schreibtisch.
»Dr. Brennan.«
»Sind Sie fertig?« Obwohl er seinen Namen nicht nannte, erkannte ich seine Stimme.
»Ich habe einige vorläufige Informationen. Autopsieraum vier.«
»Ich warte in Ihrem Büro.«
Sicher doch, Claudel. Ich habe nichts dagegen. Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.
»Möchten Sie sich ansehen, was ich gefunden habe?«
»Das ist nicht nötig.«
Claudels Aversion gegen Autopsien ist legendär. Früher spielte ich damit, dachte mir Ausflüchte aus, um ihn unter Deck zu locken. Inzwischen langweilte mich das.
»Ich brauch noch ein paar Minuten zum Aufräumen«, sagte ich.
»Das Ganze ist wahrscheinlich sowieso sinnlos.«
»Das hoffe ich sehr.« Ich legte auf.
Bleib locker. Es ist Claudel. Der Mann ist ein Atavismus.
Ich breitete ein Laken über den Tisch, streifte die Handschuhe
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