Totennacht (German Edition)
eine tote Maus und eine Wand, in die die Namen Bobby, Kevin und Joe eingeritzt waren. Es war die Hütte, in der Dwight Halsey vor seinem Verschwinden geschlafen hatte. In einer Ecke lehnte Craig Brewster an der Wand.
Die Flinte lag vor seinen Füßen. Tony hob sie vom Boden auf und trat zur Seite, um den Blick auf Brewster freizugeben. Er lebte noch, schien aber in den letzten Zügen zu liegen. Der flache Atem fuhr zischend durch seinen Bart. Eine Hand war auf die Brust gepresst, ans Herz.
Nick suchte nach Blutspuren, doch es gab keine. Nicht seine Schüsse hatten Craig niedergestreckt, sondern etwas anderes.
«Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen», sagte Nick. «Er hat einen Herzinfarkt.»
30
Das Vorzimmer des Rektorats war eine gläserne Zelle im Eingangsbereich der Perry Hollow Elementary School . Für alle, die das Gebäude betraten oder verließen, war man in dieser Zelle ausgestellt wie in einer Petrischale. Als Kat zur Tür hereinkam, fiel ihr Blick sogleich auf James’ Hinterkopf.
Sie eilte ins Büro und sah, dass ihr Sohn den Kopf in den Nacken gelegt hatte und ein Taschentuch auf die Nase gedrückt hielt. Sein Shirt war blutbefleckt.
«Kleiner Bär! Was ist passiert?»
Im Grunde wusste sie schon Bescheid. Die Hänselei war in Handgreiflichkeit ausgeartet.
«Chief Campbell?» Jocelyn Miller stand in der Tür zu einem fensterlosen Raum, in dem sich ihr Schreibtisch befand. «Kann ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?»
Kat ließ sich nicht lange bitten und warf die Tür hinter sich zu. «Wer hat das getan?»
Jocelyn bat sie, Platz zu nehmen. Kat blieb stehen, zu aufgeregt, um sich zu setzen.
«Es geht jetzt um Ihren Sohn», erklärte die Rektorin.
«Und ich möchte wissen, welcher Schuft ihm die Nase blutig geschlagen hat.» Kat marschierte auf und ab.
«Ich unterrichte seit zwanzig Jahren», sagte Jocelyn aufreizend gelassen. «In dieser Zeit habe ich sehr viele Schüler kennengelernt. Ich glaube zu wissen, wie sie ticken, nämlich vor allem äußerst emotional. Sie geraten schnell in Wut, sind schnell beleidigt, haben sich aber zum Glück auch schnell wieder beruhigt.»
«Würden Sie mir bitte endlich sagen, was passiert ist?»
Jocelyn hob die Hand, um sich Geduld auszubitten. «Es kommt immer wieder vor, dass Kinder Dinge tun, von denen sie wissen, dass sie falsch sind. Sie lügen, pfuschen bei Tests und vergreifen sich an Sachen, die anderen gehören. Nicht selten schikanieren sie auch Mitschüler. Können Sie sich erklären, weshalb das so ist?»
«Ich habe keine Ahnung», antwortete Kat.
«Zum einen liegt es daran, dass den Kindern die Konsequenzen ihrer Handlungen nicht bewusst sind. Sie kennen nur den schnellen Vorteil.»
«Und zum anderen?»
«Was glauben Sie?»
Kat stand nicht der Sinn nach Rätselraten, und sie wollte auch nicht wissen, was einen Schüler dazu bewogen hatte, ihren Sohn zu schlagen. Wahrscheinlich kam der Bengel schlicht und einfach aus miesen Verhältnissen.
«Frust und schlechte Erziehung», schlug sie als Antwort vor.
«Fast», erwiderte Jocelyn. «Tatsächlich geht es um Macht und Aufmerksamkeit. Kinder wissen, dass sie keine Mitsprache haben. Sie müssen tun, was ihnen gesagt wird, essen, was auf den Tisch kommt, und zu Bett gehen, wenn sie dazu aufgefordert werden. Natürlich meint man es in der Regel gut mit ihnen, aber das verstehen sie nicht. Also nehmen sie sich gelegentlich andere Kinder vor und bilden sich ein, endlich einmal Kontrolle ausüben zu können. Oder sie tun es, weil sie in ihrem Elternhaus keine Aufmerksamkeit erfahren. Ungezogenes Verhalten ist oft ein unbewusster Hilferuf um Aufmerksamkeit.»
Falls es die Rektorin darauf anlegte, Kat zu ermüden, hatte sie Erfolg. Kat ließ sich auf einen Stuhl fallen und sagte: «Ich will nur wissen, was passiert ist. Nennen Sie mir den Namen des Bengels, der auf James eingeschlagen hat, und ich kümmere mich um alles Weitere.»
Jocelyn verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich zurück und musterte Kat mit kritischem Blick. «Mir scheint, es gibt da ein Problem.»
«Wie bitte?»
«Ein Problem», wiederholte Jocelyn. «Mit James.»
«Mit meinem Sohn ist alles in Ordnung. Aber in seiner Klasse gibt es offenbar jemanden, der sich an seinem Schulbrot vergreift und ihm ins Gesicht schlägt. Das ist das Problem. Trotzdem sitze ich hier und höre mir einen Vortrag über das emotionale Profil eines Rüpels an.»
«Chief Campbell.» Die Rektorin schlug einen Ton an, der Kat aufmerken
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