Totennacht (German Edition)
ließ. «Ihr Sohn hat soeben einen Mitschüler krankenhausreif geschlagen. In meinen Augen ist er der Rüpel.»
Eric rührte sich nicht. Er war zu benommen, um aufzustehen, etwas zu essen oder zu trinken. Ihm fehlte sogar die Kraft, dem Lichtmuster zu folgen, das mit dem Lauf der Sonne über den Esszimmertisch wanderte. Manchmal war es still, aber die meiste Zeit über gab sein Vater Laute von sich, mit denen er zu erklären versuchte, warum er und Maggie einen kleinen Jungen namens Charlie zu sich genommen hatten.
Seine Mutter, Maggie Olmstead, so erfuhr Eric, hatte ihr ganzes Leben in diesem Haus zugebracht, in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihrer besten Freundin Jennifer Clark. Die beiden waren unzertrennlich gewesen. Sie hatten Anziehsachen und Make-up getauscht und Geheimnisse miteinander gehabt. Manchmal hatten sie sich heimlich am Fuß der Sunset Falls getroffen und Bier getrunken, bis ihnen schwindlig wurde.
Eines Abends begleitete sie ein Junge aus dem nahe gelegenen Mercerville. Sein Name war Ken Olmstead.
«Deine Mutter war das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen habe», sagte Erics Vater. «Ich habe mich auf den ersten Blick in sie verliebt.»
Sie waren schon ein Paar, als Maggie noch zur Schule ging, und verlobten sich 1958, kaum dass sie die Schule abgeschlossen hatte. Noch im August desselben Jahres heirateten sie und schmiedeten Pläne, nach Florida umzuziehen. Ken hatte dort Verwandtschaft, die im Januar 1959 ein kleines Haus auf den Keys für das jung vermählte Paar anmietete. Dort wollten sich die beiden ihr Leben einrichten, allein.
Doch dazu kam es nicht. Jennifer Clark begleitete sie.
Sie hatte kurz vorher einen jungen Soldaten namens Craig Brewster kennengelernt, den sie allerdings nur an den Wochenenden, wenn er Ausgang hatte, sehen konnte. Bei einer dieser Stippvisiten wurde Jennifer schwanger, was sie ihrer Freundin Maggie Heiligabend 1958 anvertraute.
Jennifer hatte große Angst vor der Reaktion ihrer Eltern. Vor der Schande einer ledigen Mutter. Maggie fand schließlich eine Lösung: Jennifer sollte das Kind in Florida zur Welt bringen und zur Adoption freigeben. In Perry Hollow würde niemand etwas davon erfahren.
Jennifer war einverstanden, und zu dritt zogen sie auf die Keys. Craig, vom Militärdienst in Ehren entlassen, kam im März nach. Es war eng für sie alle in dem kleinen Haus am Strand, und es mangelte immer an Geld, weil sie nur Gelegenheitsjobs fanden.
Jetzt, Jahrzehnte später, da Ken von damals erzählte, schwang eine Wehmut in seiner Stimme mit, wie sie Eric noch nie gehört hatte. Es war, als erinnere er sich an die glücklichste Zeit seines Lebens.
Das Glück war von kurzer Dauer gewesen.
Mit fortschreitender Schwangerschaft wankte Jennifer in ihrem Entschluss, das Kind wegzugeben. Außerdem zweifelte sie an Craigs Bereitschaft, sie zu heiraten. Sie stritten häufig, nächtelang.
«Wir hörten jedes Wort», sagte Ken. «Deine Mutter und ich lagen im Bett und gelobten, niemals so miteinander zu streiten. Damals ahnten wir nicht, was uns an Auseinandersetzungen bevorstand. Die würden noch schlimmer sein.»
Der Juni kam mit seinen Wirbelstürmen. Während eines dieser Stürme fand Jennifers ungeborenes Kind, dass es an der Zeit sei, die Welt zu begrüßen. Es gab kein Krankenhaus auf der Insel und auch keines in erreichbarer Nähe. Das Unwetter hatte alle Verbindungen zum Festland unpassierbar gemacht. Jennifer musste zu Hause entbinden, mit Maggie als völlig unerfahrener und verängstigter Hebamme.
Während Eric seinem Vater zuhörte, hielt er die Augen geschlossen und überließ sich der Phantasie des Schriftstellers. Er stellte sich vor, wie Jennifer, in Schweiß gebadet, auf ihrem Bett lag, umflackert vom Widerschein greller Blitze. Seine Mutter hatte Wasser erhitzt, weil sie es so aus Kinofilmen kannte, ohne zu wissen, wofür es gebraucht wurde. Obwohl verheiratet beziehungsweise schwanger, waren beide, sowohl Maggie als auch Jennifer, in Wirklichkeit noch völlig unbedarft. Sie weinten und zitterten vor Angst, und während der Sturm am Haus rüttelte und Maggie der Freundin die Stirn wischte, quälte sich Jennifer durch die Wehen.
In Erics Vorstellung marschierten sein Vater und Craig Brewster im Nebenzimmer nervös auf und ab, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Vielleicht ging Craig zwischendurch nach draußen, um sich den Regen ins Gesicht prasseln zu lassen und der Frage nachzuhängen, auf was er sich da eingelassen hatte. Zurück im
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