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Totennacht (German Edition)

Totennacht (German Edition)

Titel: Totennacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Todd Ritter
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Durchblättern eine Art Benjamin-Button-Effekt hatte, der im Film immer jünger wurde. Außerdem gab es Fotos von Charlie zu Weihnachten, wie er auf seiner Geburtstagstorte die Kerzen auspustete oder zu Ostern in einem taubenblauen Anzug, den zu tragen sich Eric strikt geweigert hätte.
    Darunter lag ein Foto, auf dem Charlie einen Säugling auf dem Schoß hielt. Das konnte, wie Eric bemerkte, nur er gewesen sein, erst wenige Monate alt. Sein Bruder saß mit ihm auf der braunen Couch, die bis 1982 im Wohnzimmer gestanden hatte. Charlie schaute mit strahlenden Augen in die Kamera, während er, Eric, sich in seinen Armen wand. Beide, sowohl er als auch Charlie, schienen glücklich zu sein. Eric wurde sich beim Anblick dieses Fotos erst richtig bewusst, dass er, obwohl als Einzelkind aufgewachsen, einen Bruder gehabt hatte und dass es bestimmt schön gewesen wäre, ihn während der Kindheit und Jugend an der Seite gehabt zu haben.
    Der Karton enthielt noch ein weiteres Foto. Es lag ganz zuunterst und klebte mit der belichteten Seite am Pappboden fest. Vorsichtig löste er es und sah, dass es sich um eine Aufnahme seiner Eltern handelte, Hand in Hand an irgendeinem Strand. Sein Vater trug ein weißes Hemd und dunkle Shorts; seine Mutter einen zweiteiligen Badeanzug. Beide grinsten fröhlich in die Kamera.
    Mit auf dem Foto waren ein Mann und eine Frau, die Eric nie gesehen hatte. Der Mann war braun gebrannt und lächelte, als gehörte ihm die Welt. Er hatte schwarzes Haar, das mit Pomade streng nach hinten gekämmt war. Eric hatte keine Ahnung, wer die beiden sein mochten. Wahrscheinlich Freunde seiner Eltern, vermutete er. Wann das Foto gemacht worden war, wusste er auch nicht, aber es mussten Jahre vor seiner oder auch Charlies Geburt gewesen sein, denn die Eltern sahen noch sehr jung aus. Seine Mutter war wunderschön mit diesem offenen Lächeln, das er so nie an ihr gesehen hatte. Auch sein Vater machte einen attraktiven Eindruck; er war athletisch, gut aussehend und voller Zuversicht, noch ganz ohne die Zeichen im Gesicht, die Kummer und Enttäuschung zurückgelassen hatten.
    Nachdem Eric das Bild eine Weile betrachtet hatte, legte er es zu den anderen in den Karton zurück. Als er ihn an seinen Platz zurückschieben wollte, fiel ihm eine große Sperrholzplatte auf, die den Raum unter der Kellertreppe abschirmte. Sie lag nur lose auf, schien aber etwas zu verbergen.
    Vielleicht weitere Dinge, die an Charlie erinnerten, dachte er. Womöglich sogar den Schlüssel zu seinem Zimmer.
    Vorsichtig schob er die Platte beiseite und entdeckte tatsächlich etwas, das Charlie gehört hatte – sein Fahrrad.
    Es stand in der Nische auf seinem Ständer. Der Vorderreifen war platt, das Hinterrad stark ramponiert. Spinngewebe aus vier Jahrzehnten hing von den Speichen. Rahmen und Schutzbleche waren verrostet, voller Dellen und Kratzer, ließen aber noch die ursprüngliche blaue Farbe erkennen wie auch die weißen sternförmigen Flecken.
    Als Eric über die Querstange strich, setzte sich schwarzer Staub auf seiner Hand ab. Warum hatte ihm seine Mutter dieses Fahrrad nie gezeigt? Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er sich gewünscht hätte, Einblick in die Vergangenheit seines Bruders nehmen zu dürfen. Umso mehr bedauerte er nun, dass ihm seine Mutter nie die Tür zu seinem Zimmer geöffnet, mehr noch, dass sie ihm nie ihre Befürchtungen anvertraut hatte, was mit Charlie passiert sein mochte. Geschweige denn ihre Hoffnungen, ihre Enttäuschungen, ihre Trauer oder ihr Leid.
    Tränen stiegen ihm in die Augen. Er wischte sie mit der sauberen Hand weg. Gracey hätte natürlich nie geweint, und das wollte Eric auch nicht. Außerdem hatte er ja noch einiges zu tun. Er musste den Schlüssel finden, denn abgesehen von einem Gefühlsausbruch war der Abstieg in den Keller ohne Ergebnis geblieben.
    Als er rückwärts aus der Nische herauskroch, stieß er vor die Sperrholzplatte. Sie landete polternd zwischen den Kisten am Boden. Erschrocken fuhr er herum, und was er dann sah, erschreckte ihn noch mehr.
    Auf der Rückseite der Platte klebte eine Karte von Pennsylvania. Sie zeigte den ganzen Staat, von Grenze zu Grenze. Perry Hollow und fünf weitere Orte waren mit großen roten Kreisen markiert. In jedem dieser Kreise steckte, mit einer Heftzwecke befestigt, ein roter Faden, der über die Karte hinausreichte und an einem ausgeschnittenen Zeitungsartikel endete, der ebenfalls an die Platte geheftet war.
    Als Erstes schaute Eric auf den

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