Totennacht (German Edition)
Artikel, der sich auf Perry Hollow bezog. Er war mit einem Schulfoto von Charlie bebildert, dem gleichen, das er in dem Karton gefunden hatte. Die Überschrift lautete: « Vermisst: Zehnjähriger Junge aus Perry Hollow. »
Mit pochendem Herzen überflog er auch die anderen Artikel, und der Magen schnürte sich ihm immer fester zusammen.
«Mom», flüsterte er benommen, «was um alles in der Welt hattest du vor?»
6
Der Name Arbor Shade ließ an eine schattige Gartenlaube denken, doch damit hatte das Seniorenheim, das Nick und Kat besuchten, nichts gemein. Es lag direkt neben der Autobahn und bestand aus einem graubraunen Gebäudekomplex. Zwar zierten den Eingangsbereich ein paar Sträucher, und auf dem Rasen stand der eine oder andere Baum, doch war der Ort alles andere als idyllisch.
«Versprich mir eins», sagte Nick, als sie auf den Eingang zugingen.
«Was?»
«Dass du mich erschießt, bevor ich in einer solchen Anstalt ende.»
Kat nickte. «Aber nur, wenn du mir das Gleiche versprichst.»
Das Innere von Arbor Shade war nicht weniger trist. Der Empfangsraum wirkte wie ein Wartezimmer beim Zahnarzt. Graue Wände, malvenfarbener Teppich. Auf einem wackligen Teetisch lag eine dürftige Auswahl an Zeitschriften. Neben einer künstlichen Palme im Topf war ein Fenster in die Wand eingelassen, durch das ihnen eine matronenhafte Person entgegenblickte.
«Wollen Sie durchs Haus geführt werden?»
Nick hinkte auf sie zu. «Nein. Wir wollen einen Ihrer Bewohner sprechen. Mr. Owen Peale.»
«Wir haben feste Besuchszeiten. Abends oder an den Wochenenden.»
Kat stellte sich neben Nick und zeigte ihre Dienstmarke. «Ich bin Chief Campbell von der Polizei in Perry Hollow. Wir müssen uns dringend mit Mr. Peale unterhalten.»
Die Augen der Frau weiteten sich. Sie führte eine Hand an die Brust und fragte: «Gibt’s Probleme?»
«Nein», antwortete Kat. «Wie kommen Sie darauf?»
«Nur so», erwiderte die Empfangsdame und warf einen Blick in die Runde, bevor sie sich vorbeugte und flüsterte: «Es gab Beschwerden.»
«Was hat er getan?», wollte Nick wissen.
Die Frau zierte und sträubte sich, was darauf schließen ließ, dass sie ein Klatschmaul ersten Ranges war. Die Alles-oder-nichts-Art von Lou van Sickle war Nick lieber.
«Ich habe Ihnen schon zu viel gesagt», sagte sie. «Mr. Peale ist um diese Zeit wahrscheinlich im Aufenthaltsraum. Und seien Sie gewarnt: Passen Sie gut auf Ihre Brieftaschen auf.»
Sie zeigte ihnen die Richtung und drückte dann auf einen schwarzen Knopf in der Wand. Zur Rechten öffnete sich klickend eine Tür.
«Zur Sicherheit», erklärte die Empfangsdame.
Nick vermutete, dass man sich hier weniger vor zudringlichen Besuchern schützen, sondern verhindern wollte, dass Heimbewohner ausbüchsten. Verständlich. Wäre er in einem solchen Haus eingesperrt, gäbe es für ihn nur noch den Gedanken an Flucht. Doch auf dem Weg zum Aufenthaltsraum kamen sie an alten Leuten vorbei, die, wenn auch nicht zufrieden, so doch immerhin schienen, als hätten sie sich in ihr Schicksal ergeben. Sie schlurften ziellos umher, fast alle mit unterschiedlichen Gehhilfen ausgestattet – orthopädischen Stöcken, Rollatoren oder Gehgestellen. Manche bewegten sich auch im Rollstuhl voran. Unwillkürlich klammerte sich Nick am Pitbull-Griff seiner eigenen Stütze fest und realisierte, dass es auch für ihn jetzt nur noch bergab ging. In nicht allzu ferner Zukunft würde er ein ähnlich trauriges Bild abgeben. Vor der Tür zum Aufenthaltsraum kreuzte eine Frau auf einem Elektrorollstuhl ihren Weg. Immerhin ein halbwegs tröstlicher Ausblick.
Der Aufenthaltsraum war gemütlicher als erwartet. Es gab einige echte Pflanzen, und durch die großen Fenster in der Außenwand strahlte helles Sonnenlicht. Ringsum standen Plüschsessel und Regale voller Bücher und Brettspiele.
In der Mitte des Raums saß eine Gruppe silberhaariger Heimbewohner vor einem Fernseher, der die Nachrichten ausstrahlte. Nick registrierte, dass gerade wieder von dem chinesischen Mondfahrtunternehmen berichtet wurde. Die Mission beherrschte schon den ganzen Sommer über die Schlagzeilen, und sogenannte Experten ließen sich unablässig darüber aus, welche Folgen daraus für die Vereinigten Staaten und den Rest der Welt erwachsen könnten.
Jetzt, da der Flug gestartet war, nahm die Berichterstattung fast manische Züge an. Es war kaum mehr möglich, den Fernseher einzuschalten oder eine Zeitung aufzuschlagen, ohne damit konfrontiert zu
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