Totennacht (German Edition)
eine Zigarette in der Hand und eine Bierflasche zwischen den Füßen. Als er Kats Streifenwagen sah, sprang er auf und eilte zur Straße.
«Ich weiß jetzt, warum meine Mutter glaubte, Charlie sei entführt worden», sagte er.
Nick stieg aus, so schnell er konnte, was nicht besonders schnell war. Er verfluchte sein Bein und den verdammten Stock.
«Und? Warum?»
Eric führte sie zur Tür und stieß dabei die Bierflasche um. Schaum spritzte aus dem Hals und ergoss sich über seine Sneakers, was er nicht zu bemerken schien.
«Weil er nicht das einzige Opfer war», antwortete er. «Es gab andere.»
7
Die Tafel – eins zwanzig mal neunzig – bedeckte fast den ganzen Esszimmertisch. Kat schlich um ihn herum, beeindruckt nicht nur von der Größe der Tafel, sondern vor allem von der Gestaltung. Eine Karte. Rote Fäden. Zeitungsausschnitte. Fotos. Sie wusste nicht, wohin sie zuerst sehen sollte. Schließlich legte sie ihr Hauptaugenmerk auf die Landkarte, weil sie den größten Platz einnahm.
Darauf waren Dutzende roter Kreise zu sehen, manche mit Buntstift aufgemalt, andere mit einem Marker, die meisten mit einem großen X aus schwarzer Tinte durchkreuzt. Nur sechs roten Kreisen fehlte dieses X. Der erste befand sich am Südostrand der Karte, genau da, wo Perry Hollow lag. Daneben stand die Ziffer Eins, ebenfalls in roter Farbe.
«Du glaubst, das hat deine Mutter gemacht?», fragte sie Eric, der mit verschränkten Armen an der Wand stand. Er wirkte benommen und angegriffen, wie jemand, der unter Schock stand. Er hielt eine Flasche Bier in der Hand, als Ersatz für die, die er umgestoßen hatte.
«Ja. Es ist zumindest ihre Handschrift.»
Kat schaute genauer hin. Zahlen und Buchstaben waren sorgfältig und in senkrechter Ausrichtung eingetragen, was nicht auf die Schnelle geschehen sein konnte.
In Perry Hollow steckte eine Heftzwecke, daran ein Faden, der zu dem gleichen Zeitungsartikel am Rand führte, den Nick ihr am Vormittag gezeigt hatte. Sie kannte dessen Inhalt und musste ihn nicht noch einmal lesen.
Fünf weitere Ausschnitte dieser Art waren über die Ränder der Tafel verteilt.
«Wo ist Nummer zwei?», fragte sie.
Nick, der neben ihr stand, beugte sich über die Karte und fuhr mit ausgestrecktem Zeigefinger darüber hinweg, bis er eine Stelle im Norden gefunden hatte, rund dreißig Kilometer von der Grenze zum Staat New York entfernt.
«Hier», sagte er. «Fairmount, Pennsylvania. Schon mal davon gehört?»
Kat schüttelte den Kopf und folgte dem Faden, der von Fairmount ausging und auf einem Zeitungsartikel am oberen Rand der Tafel endete. Die Überschrift war wie ein Echo der ersten. Junge aus Fairmount vermisst .
«Welches Datum?»
«Er verschwand am neunzehnten November 1969. Vier Monate nach Charlie.»
Nick las den Artikel laut vor. «Die Polizei sucht nach Dennis Kepner, einem zehnjährigen Jungen, den seine Eltern gestern als vermisst gemeldet haben. Er wurde zuletzt im Park gesehen, der an sein Zuhause angrenzt. Trotz ausführlicher Suche in der gesamten Umgebung konnten bislang keine Hinweise auf den Verbleib des Jungen gefunden werden.»
Wie im Fall Charlie Olmsteads war auch der Artikel über Dennis Kepner mit einem Foto illustriert, das allerdings nicht in der Schule aufgenommen, sondern von der Familie zur Verfügung gestellt worden war. Es zeigte einen pummeligen, flachshaarigen Jungen an der Seite eines Erwachsenen, wahrscheinlich eines Elternteils, von dem aber im Ausschnitt des Bildes nur die Hand am Ellenbogen des Jungen zu sehen war.
«Nummer drei liegt ganz in der Nähe», sagte Nick und zeigte auf einen Kreis zwei Fingerbreit neben Fairmount. «Eine Stadt gibt’s da nicht. Nur freies Land.»
Kat eilte an seine Seite. Die Heftzwecke steckte in einem stark abgenutzten und mit den Jahren vergilbten Fleck, auf dem nichts mehr zu erkennen war. Der rote Faden führte zu einem Artikel mit der Schlagzeile 9-jähriger Junge verschwindet im State-Park .
Das Foto darunter identifizierte den Jungen als Noah Pierce. Er grinste albern in die Kamera. Sein Haar war ordentlich gekämmt, abgesehen von einem Wirbel, der sich nicht hatte bändigen lassen. Kat schluckte, als sie das Bild sah.
Sie überflog den Artikel und las ihn für Nick und Eric vor. «Ein Junge aus Winter Haven, Florida, verschwand gestern im Lasher Mill State Park. Noah Pierce, neun Jahre alt, war zu Besuch bei seinen Großeltern in Fairmount. Seine Großmutter sagte, sie seien in den Park gegangen, weil Noah im
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