Totennacht (German Edition)
Schnee spielen wollte.»
«Schnee?», fragte Nick. «Wann war das?»
Kat suchte nach einem Datum, fand aber keins. Vorsichtig hob sie den Zeitungsausschnitt an und schaute auf die Rückseite. Dort entdeckte sie einen Eintrag, durch den vor Jahrzehnten Maggies Schere gefahren war. Trotzdem ließ sich das Datum noch entziffern.
«Sechster Februar 1971», sagte sie. «Noah Pierce verschwand also am fünften.»
«Ziemlich großer Zeitabstand», bemerkte Eric, der immer noch vor der Wand stand. «Wir denken aber doch wohl alle das Gleiche. Diese Jungen, mein Bruder eingeschlossen, wurden von ein und derselben Person entführt.»
Diese Worte auszusprechen fiel ihm offenbar schwer. Kat sah es seinen Augen und der aschfahlen Gesichtsfarbe an. Er war ein Schriftsteller, der sich einen Großteil seiner Zeit in fiktiven Welten bewegte. Hier aber taten sich reale Abgründe auf, schreckliche Geschichten, die sich tatsächlich ereignet hatten, und sein verschollener Bruder war eins der Opfer darin. Eine schwer zu verkraftende Einsicht.
«Sicher können wir nicht sein», entgegnete Kat vage, glaubte aber selbst nicht, was sie sagte.
Eric kam an den Tisch und lokalisierte das vierte Opfer. Auch diesmal steckte die Heftzwecke nicht in einer Stadt, sondern auf einem grün eingefärbten Fleck.
«Junge verschwindet aus Freizeitlager», las er in dem zugeordneten Artikel. «Der Betreiber von Camp Crescent, einem Sommerlager für vernachlässigte und benachteiligte Kinder, meldete einen seiner Schützlinge als vermisst. Dwight Halsey (12) aus Upstate New York verschwand während der Nacht aus seiner Blockhütte. Die Polizei sucht nach ihm und geht davon aus, dass er ausgerissen ist ... Der Artikel ist vom einunddreißigsten Juli 1971.»
Alle drei beugten sich über den Zeitungsausschnitt. Das Foto zeigte einen lang aufgeschossenen, schlaksigen Jungen mit dunklem lockigem Haar. Er stand vor einer Hütte, möglicherweise derjenigen, aus der er verschwunden war. So unschuldig wie die anderen Jungen schien Dwight Halsey nicht gewesen zu sein. Er hatte ein gerissenes Grinsen, und seine Augen wirkten freudlos. Ihrem Sohn James hätte Kat den Umgang mit einem solchen Burschen verboten.
Sie ging weiter um den Tisch herum und blieb vor dem Ort stehen, an dem das fünfte Kind verschwunden war: Centralia, Pennsylvania. Dort waren gleich zwei rote Kreise eingezeichnet, ein kleinerer in einem größeren. Zwei rote Fäden gingen in unterschiedliche Richtung davon ab. Der eine führte zu einem Zeitungsausschnitt, auf dem vor monochromem Hintergrund ein kleiner, kräftiger Junge mit Hemd und Krawatte abgebildet war. Wieder ein Schulfoto.
Die Schlagzeile lautete: Vermisst – 11-jähriger Junge aus Centralia. Darunter stand in etwas kleinerer Schrift: Polizei vermutet Absturz in stillgelegten Minenschacht.
Kat überflog den Artikel. Der Name des Jungen war Frankie Pulaski. Er verließ am einundzwanzigsten April 1972 sein Zuhause, um auf der Straße zu spielen, und kehrte nicht mehr zurück. Die Gegend, in der er wohnte – ein großes Bergbaugebiet –, war bekannt für seine zahlreichen Senklöcher, weshalb die Polizei annahm, dass er in ein solches Loch gestürzt war. So etwas war schon vorgekommen, und so drängte sich der gleiche Verdacht auch im Fall des sechsten und letzten Opfers auf, das am 11. Dezember 1972 verschwand.
Wieder ein Junge aus Centralia vermisst stand in der Schlagzeile.
Kat las vor:
«William Mason (10) kam gestern von der Schule nicht nach Hause zurück. Eine großangelegte Suche blieb ergebnislos. Die Polizei vermutet, dass ‹Bucky›, so der Spitzname des Jungen, in eines der vielen Senklöcher gestürzt ist. Schon im April dieses Jahres verschwand ein Junge aus Centralia, der elfjährige Frankie Pulaski. Auch in seinem Fall ging die Polizei von einem derartigen Unfall aus. Seine Leiche wurde nie geborgen.»
Kat musterte das Foto von William Mason. Der lustige Spitzname passte. Mit seinem Topfhaarschnitt, den runden Wangen und zwei vorstehenden Zähnen sah er tatsächlich reichlich komisch aus.
Sie trat einen Schritt zurück, um die gesamte Tafel in Augenschein zu nehmen. Sechs Gesichter unterschiedlichen Ausdrucks schauten ihr entgegen. Glückliche und traurige, aber alle hoffnungsvoll, abgesehen von Dwight Halsey mit seinem verschlagenen Grinsen.
Und jeder von diesen Jungen war verschwunden.
«Du hast recht, Eric. Die Fälle haben miteinander zu tun.»
Daran zweifelte Kat nunmehr ebenso wenig wie Maggie
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