Totennacht (German Edition)
ab und machte sich über die Treppe auf den Weg nach oben. Um keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit aufkommen zu lassen, steuerte sie mit hochgerecktem Kopf und gestrafften Schultern auf Lee Santangelos Schlafzimmer zu.
Er saß immer noch in seinem riesigen Lehnstuhl vor dem laufenden Fernseher und rührte sich nicht, als Kat zur Tür hereinkam. Sein Gesicht blieb ohne jeden Ausdruck. Er schien nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass Kat ein Paar Handschellen zum Vorschein brachte.
«Beck», krächzte er. «Beck.»
Als seine Frau ins Zimmer trat, atemlos und aufgelöst vor Sorge, ließ Kat die erste Schließsperre um Lees Handgelenk zuschnappen.
«Lee Santangelo, Sie haben das Recht zu schweigen.»
Becky rang nach Luft. «Was machen Sie da?»
«Wie schon gesagt», antwortete Kat und nahm auch das andere Handgelenk unter Verschluss. «Ich nehme ihn fest.»
«Das ist doch Wahnsinn.» Becky eilte herbei. «Er ist schwer krank. Sie können ihn nicht ins Gefängnis stecken. Das würde er nicht überleben.»
Natürlich lag es Kat fern, Lee Santangelo hinter Gitter zu bringen. Sie wollte seine Frau nur ein wenig unter Druck setzen. Und das gelang ihr.
«Ich kann bezeugen, dass er diesen Jungen nichts getan hat», sagte Becky.
«Wie?»
«Mit handfestem Beweismaterial.»
«Zeigen Sie es mir.»
«Ich müsste erst danach suchen», erwiderte Becky. «Das werde ich auch tun, ich verspreche es Ihnen. Aber bitte nehmen Sie ihm die schrecklichen Handschellen wieder ab.»
Kat ließ sich erweichen. Wäre Lee gesund, hätte sie wohl nicht nachgegeben. In seiner Verfassung aber war Fluchtgefahr ausgeschlossen. Und selbst wenn er etwas mit dem Verschwinden der Jungen zu tun hatte, würde es jetzt auf einen Tag mehr oder weniger nicht mehr ankommen. Späte Beweise waren besser als überhaupt keine.
«Sie haben vierundzwanzig Stunden», sagte sie, an Becky gewandt. «Wenn der Beweis morgen um diese Zeit nicht vorliegt, kommt Ihr Mann in Untersuchungshaft.»
21
Wie schon in der Nacht zuvor hatte Eric Probleme einzuschlafen. Stundenlang lag er wach und dämmerte vor sich hin, und als er schließlich doch einnickte, wurde er von Albträumen heimgesucht. Unter anderem träumte er, Lee Santangelo stünde, um vierzig Jahre verjüngt, vor seinem Bett, die Arme ausgestreckt und entschlossen, ihn zu holen. In einem anderen Traum sah er Charlie – oder seinen Geist – durch sein Kinderzimmer streifen und Staub aufwirbeln.
Das einzig angenehme und schöne Traumgesicht in dieser Nacht führte ihm Kat vor Augen. Es war die Erinnerung an ihren Kuss vor Charlies Zimmertür, nur, dass sie in dieser Szene splitternackt waren. Und als die Tür aufflog, stürzten sie nicht auf den staubigen Boden, sondern in ein warmes, helles Licht, so voller Sinnlichkeit, dass er davon aufwachte.
Er riss die Augen auf und versuchte, seine Erregung zu ignorieren. Nach dem tatsächlichen Kuss waren sie, er und Kat, mit keinem Wort mehr darauf zu sprechen gekommen. Es gab schließlich drängendere Themen, mit denen sie sich zu beschäftigen hatten. Nun aber, allein in seinem dunklen, stillen Schlafzimmer, kreisten seine Gedanken um die Frage, was der kleine Zwischenfall bedeuten mochte und – wichtiger noch für einen seit Wochen abstinent lebenden Mann – ob und wann es vielleicht zu einer Wiederholung kommen würde.
Es kam nicht selten vor, dass ihm so wie jetzt der Kopf schwirrte, vor allem dann, wenn er an einem seiner Mitch-Gracey-Bücher arbeitete. In diesen Phasen war es ihm unmöglich abzuschalten, und so lag er oft nächtelang wach, während seine Gedanken rasten. Zurzeit aber hatte er die Arbeit an seinem Buch eingestellt, Mitch Gracey schwieg sich schon seit Monaten aus.
Stattdessen dachte er an Charlie. Und an Mr. Stewart. Und an die Schreckensmiene von Becky Santangelo, als Kat ihrem Mann Handschellen angelegt hatte. Die Bilder gingen ihm nicht aus dem Kopf. Erst etwa eine halbe Stunde später näherte er sich wieder der Grenze zum Schlaf – und zu weiteren schlimmen Träumen, wie zu befürchten war.
Er dämmerte gerade weg, als er ein Geräusch hörte.
Kerzengerade im Bett aufgerichtet, lauschte er angestrengt in die Stille. Mit den Geräuschen in der Nacht zuvor, als er von Glenn Stewarts Aktion im Garten geweckt worden war, hatte dieses Geräusch nichts gemein. Es war schärfer, lauter.
Eric konnte es nicht identifizieren, hörte aber deutlich, dass es von unten kam.
Jemand war im Haus.
Vorsichtig und so leise wie möglich
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