Totennacht (German Edition)

im Preis sogar ein kostenloser Kaffee enthalten. Um Punkt sechs in der Früh brachte Tony einen Becher davon auf sein Zimmer.
    «Hier», sagte er und schob ihm den Becher zu. «Wirst du für die Fahrt brauchen.»
    «Wohin geht’s?»
    «Du fährst nach Camp Crescent.»
    Nick war verwirrt, was er auf einen Mangel an Koffein zurückführte. Aber auch nach einem kräftigen Schluck aus dem Becher sah er nicht klarer.
    «Kommst du denn nicht mit?»
    «Nein, ich kann nicht», antwortete Tony. «Wir haben die zahnärztlichen Unterlagen sowohl von Noah Pierce als auch von Dennis Kepner. Heute, noch vor Mittag, kommt ein Spezialist aus Harrisburg, und wir hoffen, bis zum Abend zu wissen, welchen der beiden Jungen wir unter der Mühle gefunden haben.»
    Nick hatte geglaubt, die Modellrakete in der Hand von Noah Pierce gefunden zu haben. Jetzt war er sich dessen nicht mehr sicher.
    Auch Tony nicht.
    «Ich habe mit Gloria telefoniert», sagte er. «Sie will, dass der Park großräumig durchsucht wird. Könnte sein, dass wir dort auch die Überreste der anderen vermissten Jungen finden.»
    Nick verzichtete darauf, Tony zu fragen, ob er Gloria Ambrose über seine Mitwirkung aufgeklärt hatte. Wenn ja, würde Tony jetzt wahrscheinlich nicht mit ihm reden.
    «Ich soll mir also jetzt das Lager ansehen, wo Dwight Halsey verschwunden ist, während du mit deinen Leuten den Lasher Mill State Park durchkämmst?»
    «Genau», erwiderte Tony. «Und sei bitte diskret.»
    Kein Problem, dachte Nick. Es gefiel ihm, die Ermittlungen allein fortsetzen und vielleicht beschleunigen zu können.
    Er duschte, rasierte sich und nahm seine Kleider von der Leine, an die er sie zum Trocknen aufgehängt hatte. Sie waren steif wie Pappe und rochen streng nach Abwässern, Schimmel und billigem Hotel. Als er sich ans Steuer setzte, kurbelte er die Fenster herunter, um gründlich zu lüften.
    Der Autoatlas klärte ihn darüber auf, dass Camp Crescent inmitten eines ausgedehnten Waldes im Südwesten lag, rund zwei Stunden entfernt. Statt Musik hörte Nick im Radio die neuesten Nachrichten über das chinesische Weltraumprogramm. Die Mondlandung war auf vier Uhr Ortszeit terminiert, eine Stunde später sollten die Astronauten die Fähre für einen kurzen Spaziergang verlassen. Wenn tatsächlich jemand vorhatte, an diesem Tag einen kleinen Jungen zu entführen, wurde die Zeit knapp, dies zu verhindern.
    Nach der Abfahrt vom Highway folgte Nick einer circa fünf Meilen langen Schotterpiste voller Schlaglöcher durch einen dichten Forst. Als er das Lager erreichte, suchte er vergeblich nach einem Namensschild. Zu sehen waren nur ein Metalltor am Ende der Piste und mindestens vier verschiedene Schilder, die vor unbefugtem Zutritt warnten. Weil Nick sich für durchaus befugt hielt, robbte er mit Hilfe seines Stocks durch die Lücke, die das Tor am unteren Rand dankenswerterweise offen gelassen hatte.
    Die Schotterpiste setzte sich auf der anderen Seite fort und führte tiefer in den Wald hinein. An einer Weggabelung wies ein verwittertes Schild zur Rezeption von Camp Crescent. Gleich daneben zeigte ein kleineres Schild mit Pfeilen auf verschiedene Einrichtungen des Lagers – Schlafplätze, Speisesaal, Toiletten. Nick ging auf die Rezeption zu.
    Er näherte sich einem zweigeschossigen Blockhaus, im Adirondack-Stil gebaut und mit einem Fundament aus Feldsteinen. Die tragenden Bauelemente bestanden aus geschälten Baumstämmen. Auf der rundum verlaufenden Veranda stand ein Schaukelstuhl. Obwohl das Haus halb verfallen war, schien der Schaukelstuhl hin und wieder noch in Gebrauch zu sein. Mit Blick durch eins der verschmierten Fenster glaubte Nick am Mobiliar erkennen zu können, dass auch das Haus selbst noch genutzt wurde. Als er aber an der Türe klopfte, wartete er vergeblich auf eine Reaktion.
    Er ging auf der Veranda um das Gebäude herum und überblickte ein ungemähtes Rasenstück, das in rund hundert Metern Entfernung an eine Wand aus Kiefern grenzte. Zwischen den Bäumen sah er einen Teil des Sees sowie ein Boot, das vor einem halb überschwemmten Anleger lag.
    Mitten auf der Wiese befand sich ein Kreis aus kleinen Felsbrocken mit Bänken davor, von denen nur noch eine intakt zu sein schien. Eine Feuerstelle, vermutete Nick. Aus einer Zeit, als Camp Crescent tatsächlich noch als Lager gedient hatte. Damit war es allem Anschein nach vorbei. Wie lange schon und aus welchem Grund blieb offen.
    Nick stieg von der Veranda und ging auf die Feuerstelle zu. Er hatte