Totennacht (German Edition)
verflüchtigt hatte. Das Bettzeug, die Vorhänge, das auf dem Boden verstreut liegende Spielzeug – alles war voller Staub. Als sie an der Kommode vorbeikam, strich sie mit dem Finger darüber und wischte die ursprüngliche Farbe frei: ein Blau, das in dem Einheitsgrau umso kräftiger ins Auge stach.
Überall hing Spinngewebe, zwischen Bett und Nachtkonsole, über den Rippen des Heizkörpers und in girlandenartigen Strängen von der Decke herab, was so aussah, als wäre das Zimmer mit Krepppapier für eine Party geschmückt worden.
«Wann, glaubst du, war hier das letzte Mal jemand drin?», fragte Kat.
«Irgendwann 1969.» Eric versuchte, Licht einzuschalten. Vergeblich. Die Glühbirnen waren längst kaputtgegangen. «Vielleicht kurz bevor der Schlüssel vergraben wurde.»
Kat schaute sich um. Ihr schien es, als sei das Zimmer seit dem Moment von Charlies Verschwinden nicht mehr betreten, geschweige denn aufgeräumt oder gelüftet worden. Es hatte die Aura eines Raums, der plötzlich und im Zustand alltäglicher Unordnung verlassen und danach nie mehr in Besitz genommen worden war.
Kat trat vor den Schreibtisch an der Wand. Darauf lagen ein Füllfederhalter ohne Kappe, Bleistiftstummel und Bögen von Malpapier. Mit spitzen Fingern hob sie eine Seite an und schüttelte den Staub davon ab. Unter grauem Schmier waren Zeichnungen zu erkennen, Sterne, eine Rakete und – natürlich – der Mond.
Gegenstände, die mit der Raumfahrt zu tun hatten, waren im ganzen Zimmer verteilt. An einer Angelschnur hing ein Planet aus Pappmaché über dem Schreibtisch. Auf der Kommode reihten sich verschiedene Modellraketen, geordnet nach Größe, und vor dem Fenster stand ein kleines Teleskop auf seinem Stativ.
Eric hatte den Blick auf die Nachtkonsole gerichtet. Auch darauf stand eine Modellrakete, daneben eine Lampe und ein gerahmtes Foto, von dem er eine dicke Staubschicht abzuwischen begann.
Vor dem Fenster stehend, tat Kat das Gleiche. Mit kreisförmiger Handbewegung wischte sie einen Teil der Scheibe frei. Es bot sich ein hübscher Ausblick auf den Vorgarten, die angrenzende Straße und das Haus der Santangelos auf der anderen Seite. Fast jedes Fenster war erleuchtet. Sie wusste, dass sich seit 1969 in der Sackgasse nicht viel geändert hatte, sah also ziemlich genau das, was auch Charlie Olmstead damals mit Blick aus diesem Fenster gesehen hatte. Sie stellte sich vor, wie er, vom Weltraum fasziniert, stundenlang vor seinem Teleskop gestanden und den Himmel, die Straße und die Nachbarn ins Visier genommen hatte.
Kat nahm das Teleskop in Augenschein. Vor der Linse steckte eine Schutzkappe, auf dem Okular aber hatte sich Staub abgesetzt, den sie abzupusten versuchte. Als es halbwegs sauber war, nahm sie die Kappe von der Linse und warf einen Blick durch das Fernrohr.
Als Erstes sah sie Lee Santangelo. Das Teleskop war durch das Schlafzimmerfenster genau auf sein Gesicht gerichtet, das im Widerschein des Fernsehers blassblau schimmerte. Nur seine Augen bewegten sich, offenbar der Szene auf dem Bildschirm folgend.
Kat justierte das Fernrohr und stellte einen größeren Ausschnitt des Zimmers scharf. Sie sah den Sessel, auf dem Lee saß, den Fernseher und eine Ecke des Pflegebettes mit Seitengitter. Charlie hatte sich anscheinend nicht nur für die Gestirne am Himmel interessiert, sondern auch für seine Nachbarn.
Plötzlich hörte Kat, wie Eric hinter ihr nach Luft schnappte. «Kat, sieh dir das an!»
Er hielt das vom Staub befreite Foto in die Höhe und drehte es herum, damit Kat einen Blick darauf werfen konnte. Es zeigte eine Gruppe von Schülern, die, auf dem Boden sitzend, bewundernd zu einem Mann aufblickten, der vor ihnen stand. Lee Santangelo – jung, athletisch und gut aussehend. Er schien einen Jungen in der ersten Reihe ins Auge gefasst zu haben und ihm zuzulächeln. Der Junge war Charlie Olmstead.
«Das Foto ist signiert.» Eric zeigte auf eine Handschrift und las. «Schau immer zum Himmel auf. Dein Freund Lee.»
Kat blickte wieder durch das Fernrohr und richtete es auf ein Fenster im Parterre, hinter dem sie das seltsame Museum wiedererkannte, das dem Leben und der Karriere des Hausbesitzers gewidmet und hell erleuchtet war. Unter den Fotos an der Wand fiel ihr nun eines auf, dem sie bei ihrem Besuch am Vormittag keine Beachtung geschenkt hatte.
«Dass mir das nicht sofort ins Auge gefallen ist ...»
«Wovon redest du?», fragte Eric.
«Von den Bildern. In Lees Haus. Sie erklären alles.»
Sie eilte
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