Totennacht (German Edition)
aus dem Zimmer und war Sekunden später aus dem Haus. Eric holte sie im Vorgarten der Santangelos ein.
«Was ist in dich gefahren?»
«Wart’s ab», antwortete Kat und ließ den großen Messingklopfer gegen die Tür fallen.
Becky Santangelo öffnete in einem seidenen Unterrock und passendem Morgenmantel, einer Aufmachung, die für eine Frau ihres Alters ebenso unpassend war wie der gelbe Chiffon-Fummel, den sie am Vormittag getragen hatte. Geradezu lächerlich waren die violetten hochhackigen Sandaletten mit weißem Plüschbesatz an ihren Füßen.
«Sie schon wieder.» Becky versuchte gar nicht erst, höflich zu sein. «Haben Sie noch Fragen?»
«Ich will die Fotos sehen», sagte Kat. «Die von Ihrem Mann.»
«Ihr Betragen war heute Morgen schon unmöglich, und ich denke –»
Kat schnitt ihr das Wort ab. «Mir ist egal, was Sie denken.»
Sie stieß die Tür auf und zwang Becky, zur Seite zu treten. Im Flur steuerte Kat geradewegs auf das Trophäenzimmer zu, in das sie soeben mit dem Fernrohr geblickt hatte. Erst vor den Fotos blieb sie stehen. Es waren viele, aus unterschiedlichen Zeiten, aber schnell hatte sie gefunden, worauf es ihr ankam.
Das erste Foto, für das sie sich interessierte, war eine Kopie dessen, das Eric im Zimmer seines Bruders gefunden hatte. Am unteren Rand des Rahmens war eine Plakette mit der Aufschrift Grundschule Perry Hollow, 1969 angebracht
Daneben hing ein Foto, auf dem Lee vor einer steinernen Kirche in Anwesenheit einer Schülergruppe einer älteren Dame die Hand schüttelte. Auf der Plakette am Rahmenrand hieß es: St. Paul’s Methodist Church, 1972 . Rechts neben Lee Santangelo stand ein Schild mit dem Namen der Kirche, darunter in kleinen weißen Buchstaben der Ort – Centralia, Pennsylvania.
«Centralia?», bemerkte Eric. «Sind da nicht zwei der Jungen verschwunden?»
Kat nickte. «So ist es.»
«Welche Jungen?», fragte Becky. Sie stand in der Tür und war schreckensbleich im Gesicht. «Ich verstehe nicht, was das alles soll.»
«Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre sind sechs Jungen verschwunden», antwortete Kat. «Wir glauben, Ihr Mann könnte etwas damit zu tun haben.»
«Noch ein Treffer», sagte Eric.
Er starrte auf ein Foto, das Lee ein weiteres Mal mit einer Gruppe von Kindern zeigte. Diese aber blickten nicht bewundernd zu ihm auf. Sie saßen in einer großen Blockhütte, wie es schien, und machten einen eher verwilderten Eindruck. Ein Fenster in der Wand ließ Bäume und die Dächer weiterer Blockhäuser im Hintergrund erkennen. Eine Plakette bezeichnete auch für dieses Foto Ort und Zeit. Camp Crescent, 1971.
Kat musterte die Gesichter der jungen Zuhörerschaft. In der zweiten Reihe hockte ein Junge von ungefähr zwölf Jahren mit düsterer Miene und verschlagenem Grinsen.
Dwight Halsey.
«Gütiger Himmel!», flüsterte Kat und tippte auf das Foto. «Er ist mit darauf. Die beiden, Dwight und Lee, sind sich begegnet.»
«Was soll daran merkwürdig sein?», meldete sich Becky zu Wort. «Mein Mann hat ganz Pennsylvania bereist. Das gehörte zu seinem Job.»
«Wissen Sie, ob er dabei jemals in einer Ortschaft namens Fairmount war?»
«Wahrscheinlich. Er war überall in unserem Bundesstaat.»
«Mrs. Santangelo», sagte Kat, «wir wissen, dass Ihr Mann in der Nacht, als Charlie verschwand, nicht allein war.»
Becky hob trotzig ihr Kinn. «Das ist eine gemeine Lüge.»
«Ich glaube, Sie verstehen nicht, wie ernst es uns ist», erwiderte Kat. «Es geht um sechs vermisste Jungen, verschwunden an den Tagen, als die Apollo-Raumfähren auf dem Mond landeten. Ihr Mann, ein verhinderter Astronaut, hatte Kontakt mit mindestens zweien von ihnen.»
«Soll das etwa heißen, Sie denken, Lee hätte sie auf dem Gewissen?»
«Nein», antwortete Kat. «Aber er steht unter dringendem Verdacht, es sei denn, jemand war in der bewussten Nacht hier und kann ihm ein Alibi geben. Andernfalls werden wir ihn festnehmen müssen.»
Becky starrte auf das große Ölgemälde, das Lee in Uniform zeigte. Es schien, als erhoffte sie sich von diesem Bild eine Entscheidungshilfe, so flehentlich betrachtete sie es, wobei sie mit der Hand den Kragen des Morgenmantels geschlossen hielt. Tränen traten ihr in die Augen.
«Tut mir leid», brach es aus ihr heraus, «ich kann dazu nichts sagen, wirklich nicht.»
Kat ging an ihr vorbei in Richtung Flur. «Dann bleibt mir jetzt nichts anderes übrig.»
Becky versuchte, sie am Ärmel festzuhalten. Kat aber schüttelte sie
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