Totennacht (German Edition)
sie fast erreicht, als er ein vertrautes Geräusch im Rücken hörte, vertraut aus seiner Zeit bei der State Police. Wer einmal den Vorderschaft einer Repetierflinte ratschen gehört hatte, vergaß dieses Geräusch so schnell nicht mehr.
Unmittelbar darauf meldete sich eine Männerstimme. «Was zum Teufel haben Sie hier verloren?»
Nick blieb wie angewurzelt stehen. «Ich bin von der State Police.»
Mit diesen Worten hoffte er den Mann im Hintergrund dazu bewegen zu können, die Flinte zu senken. Ein zwingender Spruch, der auch noch der Wahrheit entsprochen hätte, fiel ihm auf die Schnelle nicht ein.
«Umdrehen.»
Nick gehorchte und wandte sich dem Mann mit der Flinte zu. Er schien Anfang siebzig zu sein, hatte eine Glatze und einen wilden sandfarbenen Bart. Der Statur nach war er einmal ziemlich kräftig gewesen, jetzt aber wirkte er nur noch klapprig. Von den sehnigen Unterarmen, die die Flinte hielten, hing in faltigen Lappen die Haut herab.
«Ihr Name?»
«Nick Donnelly. Und wie heißen Sie?»
«Vielleicht verraten Sie mir erst einmal, wieso jemand von der State Police hier herumschnüffelt.»
«Sagt Ihnen der Name Dwight Halsey was?», fragte Nick.
«Was soll mit dem sein?»
«Haben Sie den Jungen gekannt? Ja oder nein?»
Der Mann ließ die Flinte sinken und mit ihr den Kopf. «Ja, ich habe ihn gekannt. Der verdammte Bengel hat mein Leben ruiniert.»
Sein Name war Craig Brewster. Ihm gehörte der Grund und Boden von Camp Crescent, das er einmal geführt hatte, als es noch ein Ferienort für Kinder und Jugendliche gewesen war. Während der warmen Monate lebte er in der ehemaligen Rezeption des Camps, im Winter zur Miete in einem Apartment in Philadelphia. Er war zweiundsiebzig, unverheiratet und auf einen Herzschrittmacher angewiesen.
Auf der rückwärtigen Veranda des Blockhauses, das er nun sein Zuhause nannte, erzählte er Nick seine traurige Geschichte. Hier, stellte sich Nick vor, saß der Alte wohl oft, den Blick auf das gerichtet, was er besaß und was er verloren hatte. Für Letzteres machte er den Jungen verantwortlich, der 1971 verschwunden war.
«Waren Sie hier in der Nacht, als Dwight Halsey verschwand?», fragte Nick.
Craig nickte. «Natürlich.»
«Erinnern Sie sich noch, ob Ihnen damals irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen ist?»
«Nein, Sir, mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Dass der Junge nicht mehr da war, haben wir erst am nächsten Morgen bemerkt.»
«Hätten Sie was dagegen, wenn ich mich hier ein bisschen umschaue?»
«Überhaupt nicht», antwortete Craig und stieß sich von seinem Stuhl ab. «Ich zeige Ihnen alles, was Sie sehen wollen.»
Sie gingen am Wiesenrand entlang und bogen rechts in einen Fußweg ein, der durch ein Wäldchen führte. Kleine Nebengebäude, die zum Lager gehörten, sprossen wie riesige Pilze aus dem Boden.
«Mein Vater war ein großer Naturfreund», berichtete Craig. «Von ihm habe ich viel gelernt. Ich wusste schon in frühen Jahren, dass einen zwei Dinge stark machen – Disziplin und Natur. Diesem Rat bin ich immer gefolgt.»
Mit neunzehn, so erzählte er, sei er zur Armee gegangen. Nach seiner ehrenvollen Entlassung hatte er Anstellung als Wächter in einem Gefängnis für jugendliche Delinquenten gefunden. 1969 war sein Vater gestorben und hatte ihm eine Menge Geld hinterlassen, das es ihm ermöglicht hatte, vierzig Hektar Wald zu kaufen.
«Ich habe im Knast viele Schurken kennengelernt, die im Grunde gute Jungs waren. Sie hatten nur nicht die Erziehung genossen, die man braucht. Ich dachte, sie könnten von einem solchen Ort wie diesem hier profitieren, wo sie angeln, wandern oder einfach nur jung sein könnten. Erwachsen werden kann man nirgends besser als in der Natur. So ist Camp Crescent entstanden.»
«Interessanter Name», sagte Nick.
«Ist natürlich symbolisch gemeint. Man könnte auch sagen: aufgehender Mond. Zuerst ist er nur ein schmaler, gekrümmter Silberstreifen, der immer größer wird und sich zum Vollmond auswächst. So waren auch die Jungen, die hier Urlaub machten, klein und unscheinbar, aber mit dem Potenzial, hell zu leuchten.»
Sie machten vor einem breiten, flachen Gebäude aus Baumstämmen halt. Über der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift «Kantine». Das halbe Dach fehlte, es schien schon vor Jahren eingestürzt zu sein. Zwischen den verbliebenen Trägern wuchs ein Ahornbaum in die Höhe.
«Eröffnet habe ich das Camp 1970», sagte Craig. «Für Jungs, die mit dem Gesetz in Konflikt
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