Totennacht (German Edition)
von Unkraut überwuchert und führte auf ein offenes Feld. Vor einem der leeren Grundstücke stand ein Briefkasten mit hochgeklapptem Fähnchen und wartete auf einen Zusteller, der nicht kommen würde.
Als Nick den Blick nach links richtete, sah er zwischen Bäumen einen Kirchturm aufragen. Er steuerte darauf zu, in der Hoffnung, dort irgendjemanden anzutreffen. Doch als er die Kirche erreichte, musste er feststellen, dass sie von Gott und den Gläubigen schon vor langer Zeit verlassen worden war. Kletterpflanzen rankten über das Portal, dessen Tore mit einem Vorhängeschloss gesichert waren. Im Dach klaffte ein riesiges Loch. Das Kreuz war von der Kirchturmspitze herabgestürzt und steckte neben dem Sockel im Boden. Die Hölle auf Erden, wahrhaftig.
Hinter der Kirche entdeckte Nick schließlich ein Haus, genauer gesagt, eine Doppelhaushälfte. Die andere Hälfte war verschwunden, übrig geblieben war nur ein lächerlich schmaler, hoher Gebäudeteil mit rauchgeschwärzten Mauern. Von der einen Seite betrachtet, machte das Haus mit seinen Fenstern, Fensterläden und dem Schornstein auf dem Dach einen recht normalen Eindruck. Die andere Seite aber hatte keine Fenster und bestand nur aus einer kunststoffverkleideten Fläche mit fünf Kaminzügen. Gemauerte Träger stützten die Wand ab, die sonst, wie Nick vermutete, beim Abriss der anderen Haushälfte eingestürzt wäre.
Er ließ den Anblick eine Weile auf sich wirken. Vor dem Haus war kein Briefkasten, auch eine Hausnummer fehlte. Trotzdem wohnte jemand darin. Vom Verandageländer hing eine amerikanische Fahne herab. Darunter lehnte am Fundament eine Sperrholzplatte, auf der mit Spraydosenfarbe geschrieben stand: Abstand halten!
Nick hatte keine andere Wahl. In diesem Haus würde er entweder Bill Mason senior antreffen oder eine Person, die ihm die richtige Adresse nennen konnte. Er konnte nur hoffen, dass er nicht mit einer Flinte empfangen wurde. Davon hatte er genug.
Er hinkte auf die Veranda und wollte gerade an die Tür klopfen, als dahinter eine Stimme laut wurde. Es war die einer Frau, alt, aber fest und energisch.
«Können Sie nicht lesen? Scheren Sie sich zum Teufel!»
«Ich will Ihnen nicht zur Last fallen», sagte Nick. «Ich hätte nur ein paar Fragen.»
«Sind Sie von der Regierung?»
«Nein, von der State Police. Ich suche nach Informationen über einen Jungen, der 1972 von hier verschwunden ist.»
Sogleich ging die Tür auf. Vor ihm stand eine kleine, gedrungene Frau in Jeans und Sweatshirt, mit grauem Haar und verlebtem Gesicht.
«Welchen Jungen meinen Sie?» Ihre Augen hatten die Farbe von Stahl. «Frankie oder Bucky?»
26
Perry Hollows Rathaus hatte einen unpassenden Anstrich von Grandeur. Breit und klotzig am Ende der Main Street gelegen, sah es sehr viel wichtiger aus, als es war. Kat hatte für beeindruckende Architektur durchaus etwas übrig, wenn sie denn Sinn machte. Aber an einem Gebäude, das sich mit Abfallwirtschaft und Hundesteuern beschäftigte, waren Marmorstufen und korinthische Säulen eher unangebracht.
Das Bürgermeisterbüro lag im ersten Stock. Mit einer halb abgespulten Filmrolle unter dem Arm stieg Kat die Treppen hinauf. Immerhin kam ihr niemand in die Quere, der hätte bemerken können, dass ihr ein Zelluloidstreifen von der Armbeuge herabhing. Freitagmorgens war hier nichts los. Eins zu null für die Bürokratie.
Im ersten Stock angelangt, bog sie nach links und betrat das Bürgermeisteramt. Das winzige Wartezimmer mit den Fahnen der USA und Pennsylvanias war leer, so auch der Schreibtisch an der Anmeldung, weshalb Kat geradewegs in Burts Allerheiligstes marschierte und die Spule auf dessen Schreibtisch knallte.
Burt blickte sichtlich verwundert auf. «Was soll das denn?»
«Fällt Ihnen dazu nichts ein?»
«Nein.»
Ein Großteil des Films war von der Rolle gerutscht und schlängelte sich über den Tisch. Kat nahm das Ende auf, spannte einen halben Meter zwischen ihren Händen und hielt ihn Burt vors Gesicht. «Dann denken Sie mal nach.»
Blinzelnd fokussierte der Bürgermeister seinen Blick auf die Einzelbilder. Nach nur drei Sekunden wurde er kreidebleich. Unmittelbar danach schien es, als müsse er sich übergeben.
«Woher haben Sie das?»
«Das wissen Sie», entgegnete Kat. «Und ich glaube, Sie wissen auch, wann dieser Film gedreht wurde.»
«Ist lange her.»
«Juli 1969. In der Nacht, als Charlie Olmstead verschwand. Sie waren ganz in der Nähe, Burt, und werden mir jetzt sagen, was Sie gesehen
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