Totennacht (German Edition)

Sätzen über das, was nur die Oberfläche des Mondes sein konnte. Trotz des schlechten Filmmaterials – das Bild war sehr körnig und mit den Jahren verblasst – ließ sich immer noch nachvollziehen, was Lee an diesem Moment so fasziniert hatte.
    Nach ein paar Sekunden ruckte die Kamera nach rechts, weg vom Fernseher und zum Fenster hin. Es stand jemand davor, nackt und mit dem Blick nach draußen, offenbar die Frau, die Erics Mutter vom Vorgarten aus gesehen hatte. Nur dass es gar keine Frau war. Auch von hinten betrachtet, konnte kein Zweifel daran bestehen, dass es sich um einen jungen Mann handelte. Die Schultern waren breiter als die einer Frau, die Hüften weniger rund. Die Person am Fenster bestand nur aus sehnigen Muskeln und Knochen. Annähernd weiblich war allenfalls das Haar, das bis auf die Schultern herabreichte.
    «Mein Gott», hauchte Eric. «Die mysteriöse Frau war ein mysteriöser Mann.»
    «Yep», erwiderte Kat. «Kein Wunder, dass Becky Santangelo damit nicht rausrücken wollte.»
    Der junge Mann drehte sich um, bemerkte, dass er gefilmt wurde, und eilte auf Lee zu. Der Kopf verschwand am oberen Rand des Bildausschnitts, während eine ausgestreckte Hand nach der Kamera langte, die nach einem kurzen Wackler Lee ins Bild setzte. Er zerrte sich das Hemd vom Leib und kippte rücklings aufs Bett. Grinsend begrabschte er mit der einen Hand seinen Schritt und griff mit der anderen nach der Kamera. Erneut verwackelte die Szene auf schwindelerregende Weise. Wenig später war wieder der junge Mann zu sehen.
    Er stand für einen Moment reglos da und ließ sich ablichten. Widerspenstiges Haar fiel ihm über die Augen. Seine Haut, vor allem im Gesicht, war tief gebräunt. Offenbar hatte er viel Zeit in der Sonne verbracht. Aber trotz der dunklen Tönung zeigte sich ein besonderes Merkmal ganz deutlich – ein zehncentstückgroßes Muttermal am Kinn.
    Plötzlich war der Film zu Ende, die Leinwand erstrahlte in weißem Licht. Das lose Zelluloidende schnalzte in der rotierenden Spule. Wie benommen starrte Kat noch immer auf die kahle Wand, als Eric den Projektor ausschaltete.
    Das Gesicht des jungen Mannes war nur einen kurzen Moment lang zu sehen gewesen, höchstens für zwei, drei Sekunden. Doch das hatte gereicht. Kat wusste nun um das jahrzehntealte Geheimnis der Santangelos. Und sie wusste, wer jene Nacht mit Lee verbracht hatte. Sein Name war Burt Hammond.

25
    Nick saß im Auto, als ihn ein Anruf von Tony Vasquez erreichte. Weil er mit nur einer Hand am Steuer den Verkehr gefährdet hätte, ließ er das Handy klingeln, bis er am Straßenrand zum Stehen gekommen war. Er schaltete den CD-Player aus – Lucy in the Sky with Diamonds zu Ehren seiner neuen Bekanntschaft, der Gerichtsmedizinerin – und griff nach seinem Handy.
    «Was ist?»
    «Die Zähne sind eindeutig identifiziert», berichtete Tony. «Die Knochen aus der Mühle gehören zu Noah Pierce.»
    «Weiß Lucy inzwischen, wie der Junge ums Leben gekommen ist?»
    «Sie will den genauen Untersuchungen nicht vorgreifen, vermutet aber, dass er erwürgt wurde», antwortete Tony. «Eine Waffe hätte vermutlich Spuren an den Knochen hinterlassen, und der Polizei wären damals wahrscheinlich Blutspritzer in der Mühle aufgefallen. Dass er ertrunken ist, können wir wohl ausschließen.»
    Noah war also nicht in einen Wagen gelockt und entführt worden. Sein Mörder hatte ihn offenbar an Ort und Stelle getötet und durch die Falltür gestoßen, noch ehe irgendjemandem sein Verschwinden aufgefallen war.
    «Warum hatte Noah die Spielzeugrakete von Dennis Kepner in der Hand?»
    «Das frage ich mich auch», sagte Tony. «Hast du eine Erklärung?»
    «Dennis hatte sie bei sich, als er im Park war», erinnerte Nick. «Sein Entführer hat später vielleicht Noah damit in die Mühle gelockt.»
    «Musst du mir immer eine Nasenlänge voraus sein?», frotzelte Tony.
    «Du kannst Gloria sagen, dass es deine Idee war.»
    «Hast du in dem Ferienlager, aus dem Dwight Halsey verschwunden ist, irgendetwas in Erfahrung bringen können?», fragte Tony.
    Nick erzählte von seinem Gespräch mit Craig Brewster, der traurigen Geschichte von Camp Crescent und davon, dass sowohl Brewster als auch die Polizei davon ausgegangen waren, Dwight habe sich in den umliegenden Wäldern verirrt und sei schließlich darin umgekommen. Als er seinen Bericht beendet hatte, fragte Tony: «Und was glaubst du?»
    «Dass er tatsächlich in den Wäldern umgekommen ist, aber durch die Hand eines