Totenpfad
Gezeitenströmen strecken …
Ruth liest immer weiter, und die Nudeln werden kalt darüber. Morgen hat sie keine Veranstaltungen. Sie nimmt sich vor, an den Ort zurückzukehren, wo die Knochen vergraben liegen.
Doch am nächsten Morgen regnet es in Strömen, peitschende Schauer, die schräg an die Fenster prasseln und das Moor in undurchdringlichen grauen Nebel hüllen. Enttäuscht versucht Ruth, sich anderweitig zu beschäftigen, macht sich Notizen für weitere Vorlesungen, bestelltein paar Bücher bei Amazon und putzt sogar den Kühlschrank. Doch immer wieder kehren ihre Gedanken zu dem Torques zurück, der in dem Gefrierbeutel auf dem Esstisch am Fenster liegt. Flint ist wohl eifersüchtig, er springt auf den Tisch und lässt sich mitten auf dem Beutel nieder. Ruth schiebt ihn herunter. Sie will nicht, dass Phil Katzenhaare daran findet. Er macht sich ohnehin ständig über die Katzen lustig, nennt sie «Ruths Hexentiere». Ruth beißt entschlossen die Zähne zusammen. Über diesen Fund wird er sich garantiert nicht lustig machen. Phil stand Erik dem Wikinger und seinen Thesen zur rituellen Landschaft immer skeptisch gegenüber. Für die Menschen aus der Eisenzeit war der Henge bereits ein antikes Monument, das ihnen sicher ebenso viele Rätsel aufgab wie uns heute. Haben sie die Leiche im Moor begraben, um die Grenze dieses geheimnisvollen Ortes zu markieren? Oder war sie ein Opfer ritueller Tötung, das die Wassergeister gnädig stimmen sollte? Wenn Ruth beweisen kann, dass es einen Zusammenhang zwischen der Moorleiche und dem Henge gibt, wird der ganze Landstrich an Bedeutung gewinnen. Das Salzmoor könnte zu einer wichtigen archäologischen Ausgrabungsstätte werden.
Gegen Mittag hat sie den Eindruck, dass das Wetter ein wenig besser wird. Sie geht bis zum Gartentor, spürt den Regen sanft und freundlich im Gesicht. Eigentlich ist es ja absurd, weil der Graben längst wieder voller Wasser sein wird und sie dort allein ohnehin nicht richtig arbeiten kann, aber trotzdem beschließt sie, zum Fundort aufzubrechen. Es ist gar nicht weit, höchstens anderthalb Kilometer, und ein bisschen Bewegung wird ihr guttun. Zumindest redet sie sich das eifrig ein, während sie ihren Südwester aufsetzt und die hohen Wasserstiefel anzieht, die sie sich einmal für eine Ausgrabung auf den Äußeren Hebriden zugelegt hat. Sie steckt eine Taschenlampe einund schultert ihren Rucksack. Ich will einfach nur kurz vorbeischauen, denkt sie. Eine nette kleine Wanderung, bevor es dunkel wird. Das ist in jedem Fall besser, als zu Hause zu hocken, sich den Kopf zu zerbrechen und Kekse zu futtern.
Und anfangs ist es auch wirklich schön. Ruth hat den Wind im Rücken, und ihr Südwester hält sie angenehm trocken. In der Tasche hat sie dieselbe Generalstabskarte, die sie damals auch bei der Henge-Ausgrabung verwendet haben. Als sie die Karte vorhin studiert hat, sah sie die gelbe Markierung für den Henge darauf und die grünen Aufkleber an den Stellen, wo sie auf weitere prähistorische Holzfunde gestoßen sind. Sie scheinen in gerader Linie vom Henge wegzuführen, und Erik war damals der Meinung, dass sie Teil eines Pfads oder Dammwegs sein könnten. Ob dieser Pfad womöglich zu den Knochen führt?
Anstatt der Straße zum Parkplatz zu folgen, wendet Ruth sich nach Westen und nimmt einen Pfad, der sonst den Vogelfreunden vorbehalten ist. Solange sie auf dem Weg bleibt, kann ihr nichts passieren. Zu beiden Seiten erstreckt sich das Moor mit seinen ausladenden Schilfbüscheln und Kilometern und Aberkilometern windgepeitschten Grases. Eigentlich sieht der Boden recht fest aus, doch Ruth weiß aus Erfahrung, dass er von versteckten Wasserlöchern durchsetzt ist, die ebenso tückisch wie tief sind. Wenn die Flut einsetzt, überschwemmt das Meer das halbe Moor und begräbt den Boden rasch und lautlos unter sich. Genau hier saß Peter damals vor vielen Jahren fest, zwischen Watt und Binnensumpf lag er bäuchlings im schlammigen Wasser und klammerte sich an einem Stück Treibholz fest, während Erik von der anderen Seite auf ihn zukroch und ihm Durchhalteparolen auf Norwegisch zurief.
Ruth stapft den Pfad entlang. Er ist sehr schmal an dieserStelle, und sie kann nur ein paar Meter weit sehen, weil es so neblig ist. Auf keinen Fall will sie aufs Moor hinaus geraten. Es regnet ununterbrochen, der Himmel über ihr ist schwer und grau. Einmal scheucht sie einen Schwarm Schnepfen auf, der sich in wilden Zickzacklinien in die Luft erhebt,
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