Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenpfad

Totenpfad

Titel: Totenpfad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths , Tanja Handels
Vom Netzwerk:
Institutstresor lässt, doch Ruth hat sich geweigert. Sie wollte den Torques mit nach Hause ans Salzmoor nehmen, zumindest für diese eine Nacht. Jetzt betrachtet sie ihn unter der Schreibtischlampe.
    Obwohl das Metall dunkelgrün verfärbt ist, nachdem es so lange im Moor gelegen hat, weist es doch noch einen Glanz auf, der vermuten lässt, dass es Gold sein könnte. Ein Torques aus Gold! Wie viel er wohl wert wäre? Ruth denkt an den sogenannten «Hochzeits-Torques», der hier ganz in der Nähe, in Snettisham, gefunden wurde. Ein wunderbar kunstvoll gefertigtes Stück, in das ein menschliches Gesicht mit einem Ring im Mund eingearbeitet war. Ihr eigener Fund wirkt sehr viel ramponierter; vielleicht wurde er ja beim Pflügen oder Graben beschädigt. Doch wenn sie die Augen leicht zusammenkneift und genau hinschaut, kann sie ein verschlungenes Muster erkennen, etwas wie ein Flechtwerk. Das Schmuckstück in ihrer Hand misst höchstens fünfzehn Zentimeter, doch Ruth sieht es vor sich, um den Hals irgendeiner wilden Schönheit. Vielleicht auch um den Hals eines Kindes, eines Menschenopfers?
    Sie denkt an Nelsons bittere Enttäuschung, als sich herausstellte, dass die Knochen nicht von Lucy Downey sein können. Wie es wohl sein mag, ständig so viele Tote, so viele Geister im Kopf zu haben? Ruth ist sich darüber im Klaren, dass die Eisenzeitknochen ihn überhaupt nicht interessieren,eine reine Nebensächlichkeit sind, doch für sie sind sie genauso wichtig wie diese Fünfjährige, die vor zehn Jahren verschwunden ist. Wie sind die Knochen dorthin gekommen? Wurde das Mädchen – der Größe nach vermutet Ruth, dass es sich um die Leiche eines Mädchens handeln muss, aber sie kann sich natürlich vorläufig nicht sicher sein – dort einfach dem Tod anheimgegeben? Ließ man sie langsam im tückischen Schlamm versinken? Oder wurde das Kind anderswo getötet und dann am Rand des Moores begraben, um die Grenzen der heiligen Landschaft zu markieren?
    Als die Nudeln fertig sind, isst Ruth an ihrem Tisch vor dem Fenster, Eriks Buch
Der Zittersand
aufgeschlagen vor sich. Der Titel stammt aus Wilkie Collins’ Roman
Der Monddiamant
, und Ruth schlägt wieder die erste Seite auf, wo Erik Collins’ Beschreibung des Treibsands zitiert:
     
    Das Licht wurde fahler und fahler, Totenstille herrschte über diesem trostlosen Ort. Draußen, hinter der großen Sandbank, rollten die Wogen des Ozeans heran, doch es geschah lautlos, hier hörte man sie nicht, und das Wasser der Bucht war trüb und glatt, kein Windhauch bewegte es, an manchen Stellen glich es einer scheußlichen, gelblich-weißen Brühe. Wo zwischen den zwei felsigen Landzungen, die im Norden und im Süden die Bucht begrenzten, noch etwas Licht einfiel, leuchteten Schaum und Schlamm. Die Flut kam, und der Sand begann zu zittern, sein breites braunes Angesicht erbebte, bekam Grübchen – nichts bewegte sich sonst an diesem grässlichen Ort.
     
    Wilkie Collins hat das Konzept der rituellen Landschaft offenbar verstanden, das Land und das Meer und die schaurigen, geheimnisumwitterten Orte dazwischen. Ruth erinnert sich, dass mindestens eine der Figuren aus dem
Monddiamanten
im «Zittersand» den Tod findet. Und sieerinnert sich an einen weiteren Satz aus dem Buch: «Was der Sand packt, behält er für immer.» Das Salzmoor allerdings hat ein paar seiner Geheimnisse preisgegeben, zuerst den Henge und nun diese Leiche, die offensichtlich nur darauf gewartet hat, von Ruth entdeckt zu werden. Da muss es doch einen Zusammenhang geben.
    Als sie jetzt noch einmal von der Entdeckung des Henge liest (Erik hat mindestens drei Bücher über den Fund geschrieben), denkt Ruth daran zurück, wie gespenstisch er damals im ersten Licht des Morgens aussah, wie ein Wrack, das geräuschlos wieder aus der Tiefe aufgetaucht ist. Die Holzpfähle bildeten einen düsteren Ring, hoben sich schwarz vor dem Himmel ab. Sie denkt an die Geschichten von den altnordischen Wassergeistern, die Erik abends am Lagerfeuer erzählt hat: von den Nixen, vielgestaltigen Wesen, die ahnungslose Wanderer ins Wasser locken, und von den Nöcks, den Flussgeistern, die morgens und abends in der Dämmerung singen. Wasser als Quell des Lebens und Ort des Todes. Häufig wird Wasser auch mit Frauen in Verbindung gebracht, Frauen mit Rachegelüsten im Herzen, die Männer dazu verleiten, den Tod in den Wellen zu finden. Ertrunkene Geister, deren Haar sie grünlich umfließt, deren schwimmhautbewehrte Finger sich aus den

Weitere Kostenlose Bücher