Totenpfad
kurzgeschorene graue Haar, die blauen Augen, die Warnjacke. Es ist ihr Nachbar, der Vogelschutzwart.Sie muss lächeln. Trotz aller feministischen Bedenken gefällt es ihr, dass er sie als «Mädchen» bezeichnet.
«Ja. Und Sie sind mein Nachbar, stimmt’s?»
Er hält ihr die Hand hin. «David.»
Ruth gibt ihm die Hand und muss wieder lächeln, weil die ganze Situation so absurd ist. Eben hing sie noch hysterisch schluchzend an seinem Arm, und jetzt benehmen sie sich plötzlich, als wären sie einander bei einer Cocktailparty vorgestellt worden.
«Ich bin Ruth. Nochmals vielen Dank, dass Sie mich gerettet haben.»
Er zuckt die Achseln. «Schon gut. Jetzt bringen wir Sie aber besser mal nach Hause. Da drüben steht mein Wagen.»
Als sie im Landrover sitzt, einer wahren Oase aus Wärme und Geborgenheit, verspürt Ruth so etwas wie Euphorie. Sie ist noch am Leben, wird ganz komfortabel nach Hause gefahren und hat einen zweiten Torques in der Tasche. Nur eine Sache beschäftigt sie noch. Sie fragt David, der gerade versucht, den Motor zum Laufen zu bringen: «Woher kannten Sie den Weg zurück denn so genau? Das war ja wirklich erstaunlich, wie Sie sich da durchs Moor geschlängelt haben.»
«Ich kenne die Gegend hier wie meine Westentasche.» David legt den Gang ein. «Aber seltsam ist es schon, Sie haben recht. Da stecken lauter Holzpfähle im Boden. Wenn man denen folgt, kommt man trockenen Fußes durch den ganzen Sumpf. Ich habe keine Ahnung, wer sie da versenkt hat, aber derjenige kannte sich hier offenbar noch sehr viel besser aus als ich.»
Ruth starrt ihn fassungslos an. «Holzpfähle …», murmelt sie.
«Ja. Tief im Boden. Manche sind fast vollständig versunken,aber wenn man weiß, wo sie sind, führen sie einen über die gefährlichen Stellen hinweg direkt zum Meer.»
Direkt zum Meer. Direkt zum Henge. Ruth tastet nach dem Gefrierbeutel in ihrer Jackentasche, sagt aber nichts. In ihrem Kopf arbeitet es fieberhaft.
«Was machen Sie an einem solchen Abend überhaupt hier draußen?», fragt David, als der Wagen den Parkplatz verlässt. Die Scheibenwischer kapitulieren fast vor den Regenmassen.
«Wir haben da etwas gefunden, drüben beim Parkplatz. Das wollte ich mir nochmal ansehen. Ich weiß ja selbst, dass es blöd war.»
«Sie haben etwas gefunden? Etwas Altes? Sie sind doch Archäologin, oder?»
«Richtig. Es handelt sich um ein paar Knochen aus der Eisenzeit, und ich vermute einen Zusammenhang mit dem Henge. Wissen Sie noch, wie wir vor zehn Jahren hier den Henge gefunden haben?» Sie erinnert sich dunkel, dass David damals im Sommer bei den Ausgrabungen zugeschaut hat. Eigentlich schade, dass sie seither kein Wort mit ihm gewechselt hat.
«Ja», antwortet er zögernd, «das weiß ich noch. Dieser Typ mit dem Pferdeschwanz hat das Ganze damals geleitet. Netter Kerl. War mir sehr sympathisch.»
«Ja, er ist ein sehr netter Kerl.» Seltsamerweise erinnert David sie sogar ein wenig an Erik. Vielleicht liegt es ja am Blick, der daran gewöhnt ist, den Horizont abzusuchen.
«Dann wimmelt es hier also bald wieder von all diesen Leuten? Druiden, Studenten und irgendwelchen Idioten mit Fotoapparaten?»
Ruth zögert. Sie spürt, dass David der Ansicht ist, das Salzmoor sollte ihm und den Vögeln vorbehalten bleiben. Wie soll sie ihm da erzählen, dass sie tatsächlich auf eine große Ausgrabung hofft, die ganz sicher Scharen vonStudenten und Idioten mit Fotoapparaten anlocken wird, wenn auch nicht unbedingt Druiden?
«Das muss nicht sein», sagt sie schließlich. «Im Augenblick halten wir uns da noch sehr zurück.»
David grunzt skeptisch. «Neulich waren sogar Polizisten hier. Was wollten die denn?»
Ruth weiß nicht recht, wie viel sie ihm erzählen darf. Schließlich sagt sie: «Das war wegen der Knochen. Aber als sich herausgestellt hat, dass sie prähistorisch sind, haben sie sich nicht mehr dafür interessiert.»
Inzwischen sind sie vor Ruths blauem Zaun angekommen. David dreht sich zu ihr um und lächelt zum ersten Mal. Er hat auffallend weiße Zähne. Wie alt er wohl sein mag? Vierzig? Fünfzig? Irgendwie wirkt er alterslos, so wie Erik.
«Aber Sie», sagt er, «Sie interessieren sich jetzt sehr viel mehr dafür, stimmt’s?»
Ruth grinst ihn an. «Stimmt.»
Als sie zur Tür hereinkommt, klingelt das Telefon. Ruth ist sich absolut sicher, dass es Erik ist.
«Ruthie!» Seine melodische Stimme überwindet mühelos die vielen eisigen Kilometer von Norwegen bis zu ihr. «Was höre
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