Totenpfad
doch abgesehen davon ist sie ganz allein. Sie summt beim Gehen leise vor sich hin und denkt an Erik und Peter, an jenen magischen Sommer auf dem Salzmoor. Auch an die Druiden muss sie denken, die plötzlich aufgetaucht sind, um den Henge zu besetzen. Erik, das weiß sie noch, unterstützte ihr Anliegen. Schließlich, so hatte er erklärt, sei der Henge doch genau dafür errichtet worden und nicht, um zu wissenschaftlichen Zwecken in ein Museum gebracht zu werden. Doch die Universität, die die Ausgrabung finanzierte, hatte darauf bestanden, die hölzernen Teile abtragen zu lassen. Sie würden doch sonst nur von der Flut zerfressen, argumentierten sie, man sei praktisch gezwungen, sie zu entfernen, wenn man sie erhalten wolle. «Aber sie sollen doch zerfressen werden», widersprach Erik. «Leben und Tod, Ebbe und Flut, genau darum geht es.»
Aber er konnte sich nicht durchsetzen, und die Holzpfähle waren in langsamer, mühevoller Kleinarbeit ins Forschungslabor der Universität gebracht worden. Plötzlich tut es Ruth leid um diesen Ring aus hölzernen Pfählen, der zweitausend Jahre lang unter dem Sand verborgen lag. Er gehört doch hierher, denkt sie, während sie durch schlammige Pfützen watet, die Hände tief in den Taschen vergraben.
Was der Sand packt, behält er für immer.
Schließlich sieht sie den Unterstand, wo Nelson DS Clough angewiesen hat, den Abfall einzusammeln. Auch den Parkplatz sieht sie, der jetzt völlig verlassen daliegt. Der Boden ist hier fester, und Ruth geht schneller, obwohl sie ziemlich außer Atem ist (ab Januar muss sie wirklich unbedingtins Fitnessstudio gehen). Das Absperrband flattert immer noch im Wind, und als sie sich darunterbückt, muss Ruth an Nelson denken, an seinen Eifer und seine Enttäuschung darüber, dass die Knochen doch nicht von Lucy Downey waren. Merkwürdiger Mensch, denkt sie. So schroff und unfreundlich. Aber die Sache mit dem kleinen Mädchen schien ihm richtig an die Nieren zu gehen.
Wie sie bereits vermutet hat, ist der Graben inzwischen mit Wasser vollgelaufen. Das ist das Hauptproblem bei Ausgrabungen in Sumpfgebieten in der Nähe einer Küste. In der Archäologie geht es vor allem darum, einen ‹Kontext› zu etablieren, einen klaren Blick auf die Umgebung, in der etwas gefunden wird. An Fundorten wie diesem verändert sich aber selbst der Boden unter den Füßen ständig. Ruth zieht ihren Becher aus der Tasche und macht sich daran, das Wasser abzuschöpfen. Natürlich kann sie unmöglich den ganzen Graben leeren, aber sie will doch wissen, ob sich sonst noch etwas im Boden befindet. Phil hat ihr zugesichert, ein Team von der Universität für eine ordentliche Ausgrabung herzuschicken, doch Ruth will es als Erste sehen. Schließlich ist es ihre Entdeckung.
Nach mindestens einer halben Stunde glaubt sie, etwas zu erkennen, einen matten, grünlich-bronzenen Glanz im fetten, dunklen Boden. Vorsichtig streicht sie die Erde beiseite. Das sieht fast aus wie ein weiterer Torques. Mit zitternden Fingern zieht sie den alten Übersichtsplan hervor und markiert die neue Fundstelle. Ein zweiter Torques, das könnte der Beginn eines größeren Fundes sein, einer rituellen Ansammlung vergrabener Schätze.
Es ist tatsächlich ein weiterer Torques, zerbeult und verbogen, wie von einer riesigen Hand zerquetscht. Doch als sie genauer hinsieht, erkennt Ruth, dass er ansonsten völlig intakt ist. Der Reif sieht aus wie eine gedrehte Gerade, die Enden sind sanft abgerundet. Ruth ist sich sicher, dassauch dieser Halsring aus derselben Periode stammen muss, der frühen bis mittleren Eisenzeit. Ob es sich wirklich um einen Votivschatz handelt? Ein Fund kann Zufall sein, ein zweiter lässt mit großer Wahrscheinlichkeit auf ein Ritual schließen.
Sie sinkt zurück auf die Fersen. Ihre Arme schmerzen. Erst jetzt bemerkt sie, wie dunkel es bereits ist. Sie schaut auf die Uhr. Schon vier! Für den Weg hierher kann sie allenfalls eine halbe Stunde gebraucht haben, das heißt also, sie hockt schon seit fast zwei Stunden hier im Schlamm. Sie muss auf der Stelle umkehren. Ruth rappelt sich hoch, steckt den Beutel mit dem Torques in die Manteltasche und setzt den Südwester wieder auf. Der Regen, der bisher nur ein leichtes Nieseln war, wird plötzlich stärker und schlägt ihr direkt ins Gesicht, als sie den Hang hinauf zurück zum Pfad klettert. Mit gesenktem Kopf stapft Ruth weiter. Sie ist noch nie im Salzmoor von der Dunkelheit überrascht worden, und das wird ihr auch diesmal
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