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Totenpfad

Totenpfad

Titel: Totenpfad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths , Tanja Handels
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nicht passieren.
    Etwa zwanzig Minuten lang marschiert sie so dahin, den Kopf gesenkt im prasselnden Regen, dann bleibt sie stehen. Sie müsste doch längst wieder beim Kiesweg sein? Inzwischen ist es fast völlig dunkel, nur vom Moor kommt ein sanftes, phosphorartiges Leuchten. Ruth zückt ihre Taschenlampe, doch der zittrige Lichtkegel zeigt ihr ringsum nur ebenes Sumpfland. In der Ferne hört sie das Tosen des Meers, die Wellen, die immer weiter an Land schlagen. Als sie versucht, die Karte aufzufalten, bläst der Wind sie ihr ins Gesicht. Sie darf den Verlust nicht riskieren, die Karte ist viel zu wertvoll, also packt sie sie wieder ein. Sie hört das Meer – aber aus welcher Richtung? Ruth zieht ihren Kompass hervor. Sie ist viel zu weit östlich. Sie kämpft die Panik nieder, dreht sich langsam um sich selbst, bis sie nach Süden schaut, und macht sich dann wieder auf den Weg.
    Das nächste Mal bleibt sie stehen, weil sie plötzlich ins Leere tritt. Eben war sie noch auf trockenem Boden, im nächsten Moment steckt sie bereits bis zum Knie im Sumpf. Sie fällt fast vornüber, schafft es aber, das Gleichgewicht zu halten und sich nach hinten zu tasten, bis sie auf festem Untergrund sitzt. Dann zieht sie mit einiger Anstrengung das Bein aus dem flüssigen Schlamm, der es schließlich mit einem grauenvollen Schmatzen freigibt. Zum Glück behält sie den Stiefel an. Keuchend macht sie einen Schritt nach hinten. Fester Boden. Ein Schritt nach vorn: morastiger Schlamm. Rechts Schlamm, links fester Boden. Zögernd bewegt Ruth sich also nach links, den Strahl der Taschenlampe vor sich.
    Nach ein paar Metern fällt sie der Länge nach in einen Graben, und als sie die Hände ausstreckt, um sich abzufangen, greift sie in eiskaltes Wasser. Sie führt die Finger zum Mund. Salz. Großer Gott, sie muss ins Watt geraten sein. Sie rappelt sich auf, streicht sich den Schlamm aus dem Gesicht und konsultiert noch einmal den Kompass. Osten. Hat sie den Pfad etwa komplett verfehlt? Steuert sie direkt aufs Meer zu? Das Brausen klingt ihr jetzt so laut in den Ohren, dass sie nicht mehr unterscheiden kann, ob es vom Meer oder vom Wind kommt. Dann schwappt ihr eine Welle vor die Füße. Kein Zweifel: ein eiskalter, salziger Wasserschwall. Sie ist tatsächlich mitten im Watt, vielleicht sogar an derselben Stelle, wo Peter vor Jahren um Hilfe gerufen hat. Doch heute ist kein Erik weit und breit, der sie retten könnte. Sie wird ertrinken, hier, im gottverlassenen Watt, mit einem unschätzbar wertvollen Halsreif aus der Eisenzeit in der Tasche.
    Ruth schluchzt jetzt hemmungslos, die Tränen mischen sich mit Regen und Meerwasser auf ihren Wangen. Und dann hört sie etwas so Wundersames, dass sie es fast für eine akustische Täuschung hält. Eine Stimme. EineStimme, die sie ruft. Sie sieht ein Licht, den zitternden Strahl einer Taschenlampe, direkt auf sich zukommen. «Hilfe!», brüllt sie verzweifelt. «Hilfe!»
    Das Licht kommt näher, und eine Männerstimme ruft: «Kommen Sie hier lang. Her zu mir.» Praktisch auf allen vieren krabbelt Ruth auf das Licht und die Stimme zu. Aus dem Nebel löst sich eine Gestalt, eine stämmige Gestalt, die eine Warnjacke trägt. Eine Hand streckt sich ihr entgegen, packt sie. «Hier lang», sagt die Stimme. «Hier lang.»
    Ruth klammert sich an den gelben Regenmantelärmel wie an einen Rettungsanker und stolpert neben dem Mann her. Er kommt ihr irgendwie bekannt vor, doch darüber kann sie sich im Augenblick keine Gedanken machen. Sie schafft es ja kaum, ihm über diesen verschlungenen Pfad zu folgen, der erst nach links, dann nach rechts, erst mit dem Wind, dann dagegen, durch das Moor führt. Was immer das für ein Weg sein mag, er ist erstaunlich sicher. Sie bleiben fast die ganze Zeit auf festem Boden, und bald schon erkennt Ruth das blauweiße Absperrband und den Parkplatz, wo jetzt ein verbeulter Landrover steht.
    «Großer Gott.» Sie lässt den Arm des Mannes los und beugt sich vor, um wieder zu Atem zu kommen.
    Er tritt einen Schritt zurück und leuchtet ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht. «Was in aller Welt haben Sie denn da draußen gemacht?», will er wissen.
    «Ich wollte zurück nach Hause, aber irgendwie habe ich mich verlaufen. Danke. Ich weiß wirklich nicht, was ich gemacht hätte, wenn Sie nicht gekommen wären.»
    «Das kann ich Ihnen sagen: Sie wären ertrunken.» Dann ändert sich sein Ton. «Sie sind doch das Mädchen von der Universität, nicht?»
    Ruth mustert ihn: das

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