Totenreigen
Drübbisch
adressiert. Horst Drübbisch war damals fünf Jahre alt. Eine Mappe war voll mit
Zeitungsausschnitten über den Mord an Hermann Drübbisch, der damals
offensichtlich durch die bundesdeutsche Presse ging, alle sorgfältig auf
Schreibmaschinenpapier geklebt. » DDR in Ermordung
eines schleswig-holsteinischen Regierungsbeamten verwickelt«, stand als
Überschrift in einem herausgeschnittenen Artikel eines alten »Stern«. Auf dem
Tisch im Keller hatte das Landeskriminalamt DNA -Spuren
und Haare von Horst Drübbisch und einer Frau festgestellt.
»Bitte rufen Sie gleich noch bei der Ermittlungsgruppe Milieu an.
Die sollen eine DNA -Probe bei Verena Klockemann
nehmen«, sagte Lüthje und gab Vehrs die Mail zurück. »Wie finden Sie die
Ergebnisse? Sie haben die Mail doch sicher beide gelesen.«
»Ich denke, wir sind heute ein bisschen ganz viel weitergekommen«,
sagte Hoyer schmunzelnd.
»Ein bisschen sehr viel weiter«, ergänzte Vehrs.
»Was halten Sie von einem Haftbefehl gegen Jochen Klockemann?«,
fragte Lüthje.
»Das wär vielleicht ein bisschen zu viel«, sagte Hoyer.
»Klockemann hatte ein Motiv und kein Alibi«, sagte Vehrs. »Das
reicht doch.«
»Du hast Herrn Lüthje noch nicht von deiner Telefoniererei heut Vormittag
erzählt«, sagte Hoyer und zu Lüthje gewandt: »Ich musste rausgehen und hab
meine Mittagspause vorverlegt. Es war nicht auszuhalten.«
»Na los, Vehrs, erzählen Sie mal«, sagte Lüthje und goss sich die
nächste Tasse Earl Grey ein.
»Ich bin Klockemanns Alibiliste sorgfältig durchgegangen, habe jeden
Einzelnen der von ihm benannten Kollegen von der Bestattertagung angerufen.
Manchmal habe ich sie erst nach mehreren Versuchen erreicht. Keiner hat mir
eine präzise Auskunft gegeben, alle sagten, ›ja, den hab ich gesehen, der war
doch auch da, aber ich hab doch nicht immer auf ihn geachtet‹. Keiner hat mir
seine Anwesenheit in einem Zeitraum von fünfzehn bis neunzehn Uhr am Samstag
bestätigt. Alle kannten ihn, aber das ist auch kein Wunder, er ist dritter
stellvertretender Vorsitzender im Bundesvorstand und wiedergewählt worden. Fast
alle haben mir dann noch die Ohren vollgejammert, wie schwer sie es gegen die
Konkurrenz aus dem Osten haben, das sei alles russische oder weißrussische Mafia,
ob wir von der Kripo nicht mal dagegen vorgehen könnten. Zu dem Thema hätten
sie nämlich einen Beschluss gefasst und so weiter. Das war es. Ein Alibi hört
sich anders an.«
»Holen Sie erst mal Luft, Vehrs«, sagte Lüthje lächelnd.
»Eifersucht ist ein gutes Motiv, aber die Frage des Alibis ist
genauso wichtig«, sagte Hoyer aufgeregt und wandte sich zu Vehrs. »Ein Anwalt
würde die Wackelkandidaten unter den Zeugen her ausfischen und bearbeiten. Und
siehe da, ihr Gedächtnis funktioniert dann vor dem Haftprüfungstermin
wunderbar. Ganz zu schweigen von der Gerichtsverhandlung.«
»Grundsätzlich hat Hoyer ja recht«, sagte Vehrs. »Aber es wäre ja
nicht das erste Mal. Wir können doch nicht deswegen unsere Arbeit einstellen.
Wenn wir der Überzeugung sind, dass er der Täter ist, dann müssen wir über die Staatsanwaltschaft Haftbefehl beantragen. Schließlich muss ein
Richter den unterschreiben. Und das macht er nur, wenn er unserer Meinung ist.«
Hoyer und Vehrs sahen Lüthje erwartungsvoll an. Es war Zeit für eine
Entscheidung.
»Warum lagen die Aktenmappen unter dem Opfer?«, fragte Lüthje.
»Warum hing das Kleid an der Hauswand? Warum ist Rainer Stolze am Tatort
gewesen? Wo ist die Tatwaffe? Ich muss noch mal mit Ursula Drübbisch sprechen.
Danach sehen wir weiter.« Er schraubte seine Thermosflasche zu und verstaute
sie im Rucksack.
»Herr Lüthje, ich wollte Sie noch fragen, ob Sie die
Genesungswünsche für Herrn Schackhaven auch unterschreiben wollen.« Hoyer zog
ein Blatt Papier aus einer Schreibtischschublade. »Und um einen Beitrag für den
Blumenstrauß.«
»Was ist mit Schackhaven?«, fragte Lüthje erstaunt. Er war
aufgestanden und hatte sein Jackett vom Stuhl genommen.
»Ich dachte, Sie wüssten, dass er im Krankenhaus liegt.«
»Nein, das wusste ich nicht. Was ist passiert?«
»Er ist bei einem Empfang im Hotel Wave zusammengebrochen. Haben Sie
ihn da nicht gesehen? Kreislaufschwäche wegen der Hitze, heißt es.«
Lüthje holte schweigend sein Portemonnaie aus dem Rucksack und gab
Hoyer einen Fünf-Euro-Schein.
»So viel wäre nicht nötig gewesen«, sagte Hoyer und legte den Schein
in eine kleine Geldkassette. »Ein Euro hätte gereicht.
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