Totenreigen
ungefähr denken kann.«
»Wollen Sie raten?«, fragte Vehrs schmunzelnd.
»Nein, ich will die Fakten genießen«, sagte Lüthje und setzte sich
mit einem Ruck auf die Fensterbank. »Legen Sie los.«
»Unter dem Foto des Laboer Lehrerkollegiums standen achtzehn Namen.
Acht von ihnen haben damals in Laboe gewohnt. Der Einzige, der in der Nähe der
Strandstraße gewohnt hat, nämlich im Hexenstieg, ist ein Rainer Stolze.
Nächster Schritt. Von den achtzehn Lehrern sind inzwischen elf gestorben. Eines
natürlichen Todes. Von den lebenden sieben Lehrern sind vier Frauen, von denen
eine in Bayern wohnt, die andern zwei Frauen in Kiel. Die verbleibenden drei
Männer sind ebenfalls in Kiel gemeldet. Nur einer wohnt in der Nähe der
Bushaltestelle Hummelwiese. In einer Dreizimmerwohnung im Königsweg. Das sind
nur dreihundert Meter von der Bushaltestelle Hummelwiese. Dort wohnt unser
Mantelmann. Er heißt Rainer Stolze.«
»Sagen Sie nicht, dass Sie die Wohnung noch nicht überprüft haben!«,
sagte Lüthje aufgeregt.
»Die Nachbarn wussten nicht einmal, dass er die letzten Tage nicht
da war, geschweige denn wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatten«, fuhr Vehrs
fort. »Seine Papiere haben wir in einem Sommermantel an der Garderobe gefunden.
Hier!«
Vehrs reichte Lüthje einen Personalausweis.
»Der Mantelmann. Laut Ausstellungsdatum des Ausweises müsste er auf
dem Foto mindestens acht Jahre jünger sein«, sagte Lüthje und betrachtete das
Passfoto. »Und trotzdem sieht er genauso alt aus, wie ich ihn kenne.
Merkwürdig.« Er reichte Vehrs den Ausweis zurück. »Was haben Sie in der Wohnung
gefunden?«
»Im Kühlschrank war die Hälfte der Lebensmittel seit einem Monat
abgelaufen. Auf dem Küchentisch standen ein verschimmeltes Wurstbrot und eine
volle Tasse schwarzer Kaffee. Es stank, sämtliche Fenster waren geschlossen,
wahrscheinlich seit Wochen nicht gelüftet. Im Wohnzimmer Fachbücher, Deutsch
und Heimatkunde. Ein paar alte Liebesromane. Auf dem Schreibtisch im Wohnzimmer
ein Chaos. Angefangene Sätze und ein voller Papierkorb. Nichts, was für uns
wirklich relevant wäre. Und da habe ich mir überlegt, was denn fehlte. Was in
dieser Wohnung anders war. Es fehlten Uhren. Es fehlten Bilder an den Wänden.
Und es gab keine Fotoalben. Natürlich gab es keine Computer oder Han dys, was
wohl auf sein Alter zurückzuführen ist. Es war, als ob er irgendwann alle
Papierfotos systematisch vernichtet hätte. Das hat doch eigentlich jeder in
seinem Alter so angesammelt. Übrigens habe ich keine lebenden Verwandten ermitteln
können. Er war nie verheiratet, hat keine Nachkommen.«
Lüthje holte die Laboer Chronik aus seinem Rucksack. Er schlug die
Seite mit dem Foto des Lehrerkollegiums auf und legte das Buch auf Hoyers
Schreibtisch. Vehrs stellte sich dazu.
»Hier«, sagte Lüthje und tippte auf das Foto. »Ursula Schedelgarn
ganz oben und in derselben Reihe etwas weiter rechts Rainer Stolze.«
Der Mantelmann Rainer Stolze, jung, schlaksig, runde Nickelbrille,
skeptischer Blick zur Kamera mit halb abgewandtem Kopf, in der linken Hand eine
Zigarette, die er wohl nur für den Fotografen aus dem Mund genommen hatte.
Ursula Schedelgarn stand eine Reihe höher, etwa drei Meter von ihm entfernt.
Sie blickte dem Fotografen mit leicht geneigtem Kopf direkt in die Kamera, als
würde sie ihn gern kennenlernen.
»Die beiden würden gut zusammenpassen«, sagte Hoyer.
»Äußerlich ja. Damals passten alle jungen Leute gut zusammen.«
Lüthje lächelte in sich hinein. »Nein, für mich deutet nichts darauf hin, dass
es zwischen den beiden eine innere Verbindung gibt. Wenn es doch eine gab,
haben sie sich geschickt aufgestellt. Ich werde Ursula Drübbisch das Foto
zeigen.«
»Wird sie in Tränen ausbrechen?«, fragte Vehrs.
Lüthje zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Sie hat es im Leben
gelernt, sich zusammenzureißen.«
Er klappte das Buch zu und steckte es zurück in den Rucksack. »Hat
sich die Spurensicherung gemeldet?«
»Prebling hat diese Mail geschickt.« Vehrs nahm ein Blatt Papier aus
seinem Eingangskorb auf dem Schreibtisch und reichte es Lüthje. »Er sagte, dass
er schon mit Ihnen deswegen telefoniert hat. Es geht um die Aktenmappen, die
unter dem Opfer lagen, und den Tisch im Keller.«
»Heute ist wirklich Weihnachten und Ostern an einem Tag«, sagte
Lüthje.
Er überflog die Mail. Bei den Akten handelte es sich tatsächlich um
die familiäre Korrespondenz mit dem Anwalt, alles an Ursula
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