Totenreise
damit man ihn aus dem Unterricht gehen ließ; bei seinem schauspielerischen Talent war das sicher kein Problem für Dominique.
Daphne zögerte einen Moment. »Bist du sicher?«, fragte sie. »Willst du wirklich das Leben deines Freundes aufs Spiel setzen?«
Nachdenklich biss sich Pascal auf die Lippen.
»Er soll entscheiden. Aber erst einmal kommt er mit.«
»Weiß er etwas?«
»Ja.«
»Hol ihn.« Daphne war einverstanden. »Ich warte draußen auf euch, dieser Ort hier ist vom Bösen ganz verseucht, und wir dürfen uns nicht verraten. Und sprich sonst mit niemandem über die Dunkle Pforte. Das macht den Wesen der Finsternis die Sache nur leichter.«
Minuten später verließ Dominique die Schule, nachdem er sich im Büro des Direktors entschuldigt hatte. Er habe hohes Fieber und fühle sich nicht wohl. Wie immer übertrieb er maßlos. Daphne und Pascal warteten ganz in der Nähe auf ihn. Sie luden seinen Rollstuhl ins Auto und machten sich auf den Weg zu Daphnes Kellerwohnung. Unterwegs bot Daphne Dominique auch das Du an. »Das erleichtert die Kommunikation«, sagte sie.
22
BEVOR SIE DAS Thema mit Michelle anschnitt, setzte Daphne zunächst Dominique über die Existenz eines Vampirs ins Bild, wovon er sichtlich beeindruckt war.
»Das ist noch nicht alles«, fügte Daphne hinzu. »Ich habe den Vampir sogar schon getroffen. Es war ein Zufall. Ich bin ihm gestern Abend begegnet, in eurer Schule, fast hätte er mich entdeckt. Ich habe gehört, wie ihn der Hausmeister gerufen hat. Es ist Alfred Varney, der Ersatz für Delaveau.«
»Bist du sicher?«, fragte nun Pascal, nicht weniger beeindruckt. Dieser Vampir lebte also mitten unter ihnen, wie ein ganz normaler Mensch. Und was noch viel schlimmer war: Er befand sich bereits in seinem, in Pascals näherem Umfeld. War die Gefahr für ihn also bereits so nah?
»Ja, natürlich«, erwiderte Daphne. »Und es ergibt durchaus einen Sinn. Auch wenn er bisher weder die Dunkle Pforte noch dich gefunden hat, wird sich der Vampir daran erinnern, in welcher Gegend von Paris du zum ersten Mal die Pforte durchschritten hast, weshalb er sich nicht weit von Jules’ Wohnort entfernte; und die Schule ist in der Nähe. Er hat sein erstes Opfer ganz unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für seine Suche nach der Pforte ausgewählt. Delaveau war ideal; er arbeitete in der Gegend, die ihn interessiert, und gab Abendkurse, weshalb der Vampir ihn bei seiner Arbeit ersetzen kann, während er weiter seinen Plan verfolgt. Für dieses Monster ist es ein einfaches Spiel, sich eine gesellschaftliche Tarnung zuzulegen. Außerdem ist es wahrscheinlich, Pascal, dass er deine Anwesenheit in dieser Schule von Anfang an spürte, und so kann er dort herumschnüffeln, ohne dass jemand Verdacht schöpft.«
Dann kam Daphne zum Thema: »Und jetzt das Wesentliche. Ich muss wissen, ob ich mit meinen Vermutungen richtigliege: Was wisst ihr über den Verbleib von Michelle?«
»Sie ist verreist, mit ihrer Familie«, sagte Pascal bekümmert. »Ich habe es vom Internat erfahren, wo ich anrief, denn sie hat uns nichts gesagt. Seit Sonntag ist von Michelle nichts mehr zu hören.«
Daphne seufzte.
»Das deckt sich mit meinem Verdacht«, bemerkte sie. »Habt ihr diese angebliche Reise überprüft?«
Pascal und Dominique sahen sich beunruhigt an.
»Eigentlich nicht«, antwortete Pascal. »Warum sollten wir?«
»Würden die vom Internat lügen?«, fragte Dominique.
Für Daphne war der Augenblick gekommen, ihnen ihre Vorahnung mitzuteilen, doch vorher wollte sie noch eine Sache wissen: »Ab wann war sie am Sonntag allein?«
Pascal befiel langsam Panik, und Dominique, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ, ebenfalls. Worauf zielte Daphne nur ab?
»Mathieu hat mir gesagt, sie sei ziemlich spät von ihm weggegangen, erst nach dem Abendessen«, antwortete Pascal.
Daphne nickte wissend. »Und es war natürlich dunkel. Das war kein Zufall …«
»Was ist denn los?«, fragte Dominique ungeduldig.
Die alte Wahrsagerin schaute die beiden abwechselnd an. »Ich hatte eine Vision. Und ich bin mir ziemlich sicher, was sie zu bedeuten hat: Michelle ist von dem Vampir entführt worden.«
Die Worte trafen die beiden wie ein Peitschenhieb. Pascal machte ein entgeistertes Gesicht und Dominique schüttelte den Kopf.
»Ich werde im Internat anrufen«, verkündete Dominique und zückte sein Handy. »Ich kenne eine Freundin von Michelle, die ebenfalls dort wohnt, Cécile. Vielleicht weiß sie etwas. Bestimmt gibt
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