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Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Titel: Totenruhe - Bleikammer - Phantom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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die Halle. Traude Gunkel kam aus dem Bibliotheksvorraum, und als sie eben die Hand auf den Lichtschalter legte, erstarrte sie.
    Sanjay lächelte ihr verlegen zu, den Arm um Paul geschlungen.
    Sie waren entdeckt.
    Es war nach zwei Uhr. Die alte Dame hatte bis jetzt in den Büchern gewühlt. Kein Wunder ist sie so bärbeißig, wenn sie sich keinen Schlaf gönnt , dachte Sanjay. Morgens um sechs war die Dozentin stets auf den Beinen.
    Natürlich ließen die kritischen Bemerkungen nicht lange auf sich warten. „Man braucht kein Hellseher zu sein“, begann sie, „um herauszufinden, was dahintersteckt, wenn sich die schulischen Leistungen einer jungen, attraktiven Studentin plötzlich verschlechtern. Einer solch plumpen Bestätigung hätte es nicht bedurft.“
    Sanjay wollte etwas sagen, doch Traude Gunkel sprach weiter: „Obwohl ich als Verantwortliche das Recht und sogar die Pflicht hätte, solche Treffen in unserem Haus zu unterbinden und Strafen auszusprechen, will ich in diesem Fall davon absehen. Es sind moderne Zeiten.“ Sie sprach das Wort „modern“ aus, als bezeichne es eine ansteckende Krankheit. „Nur einen kleinen Hinweis sollten Sie mir freundlichst gestatten, Fräulein Munda: Die Zeit der Jugend ist blendend schön, aber auch außerordentlich kurz. Denken Sie darüber nach, was Ihnen von einem solchen Techtelmechtel bleibt, wenn Sie eines Tages so alt sind wie ich – und glauben Sie mir, das geht sehr schnell. Was Sie dagegen an Wissen anhäufen, das tragen Sie Ihr Leben lang bei sich wie einen Schatz.“
    Was mir bleibt? , dachte Sanjay. Eine wundervolle Erinnerung. Und solange ich die bei mir trage, werde ich mit Sicherheit niemals so verbitterte Matrone wie Sie!
    „Werden Sie We… den Rektor informieren?“, hörte sich Sanjay fragen.
    Die Gunkel hob die Schultern. „Hätte es einen Sinn? Würde er die Strenge walten lassen, die angebracht ist? Nein, Kindchen, es gibt niemanden in diesem Haus, der auf meiner Seite ist. Das wissen Sie, und ich weiß es ebenso. Aber unterschätzen Sie mich deswegen nicht!“ Es klang wie eine Drohung, aber eigentlich klang alles, was sie sagte, wie eine Drohung. „Und jetzt lassen Sie sich von mir nicht länger stören. Trinken Sie Ihren Alkohol, berauschen Sie Ihre Sinne mit Drogen und allem anderen, was die Jugend Ihnen zu bieten hat. Lassen Sie sich das, was Sie für Spaß halten, auf keinen Fall von Ihrer alten, verknöcherten Lehrerin verderben.“
    Jetzt erst löschte die Dozentin das Licht in der Bibliothek und schaltete einen Augenblick später das in der Halle ein. Geblendet blinzelte Sanjay und kam sich entblößt vor, obwohl sie ihre Kleider trug. Gewiss war es genau dieses Gefühl, das die Gunkel in ihr auslösen wollte.
    Mit erhobenem Haupt ging sie an ihnen vorüber, warf noch einen raschen Blick auf das junge Paar und …
    … erstarrte.
    „Was ist mit Ihnen?“, sagte sie.
    „Mit mir?“, erwiderte Sanjay verwundert. „Nichts, ich …“ Dann fiel ihr auf, dass die Gunkel nicht sie, sondern Paul ansah. Und sie spürte jetzt auch, wie er in ihrer Umarmung ein wenig schwankte. Als sie ihn musterte, sah sie ein weißes, käsiges Gesicht, Augen, die ihren Fokus verloren hatten, einen halboffenstehenden Mund, aus dem ein Speichelfaden rann. Er beugte sich nun vornüber, schien sich übergeben zu wollen.
    Hastig zog sie einen Stuhl heran. Gerade noch rechtzeitig konnte sie ihn darauf absetzen, ehe er zusammengebrochen wäre. Sie hielt seine Schultern fest, damit er nicht umkippte. Er sah scheußlich aus.
    Die Dozentin war herangekommen. Sanjay hatte das seltsame Gefühl, Paul vor ihr schützen zu müssen, doch schließlich ließ sie sich von der knochigen Hand der Alten zur Seite schieben. Traude Gunkel beobachtete Paul aus schmalen Augen.
    „Was haben Sie genommen?“, fragte sie.
    „Genommen? Was meinen Sie?“
    „Ich rede von Drogen. Kokain? Ecstasy? Denken Sie nicht, ich habe keine Ahnung von diesen Dingen.“
    „Wir haben keine Drogen genommen!“, erwiderte Sanjay energisch. „Einen Schluck Campari Orange, sonst nichts.“ Paul konnte nichts sagen. Er hielt sich den Magen, krümmte sich, als habe er Schmerzen, Krämpfe. Sanjay begriff nicht, was ihm so plötzlich zugestoßen sein konnte. Vor wenigen Minuten hatte er vor Gesundheit nur so gestrotzt. Er war ein starker, aktiver Liebhaber gewesen, voller Glut. Selbst nach seinem Höhepunkt hatte er keinen erschöpften oder geschwächten Eindruck gemacht. War es eine allergische Reaktion?

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