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Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Titel: Totenruhe - Bleikammer - Phantom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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in einem italienischen Restaurant gesessen und eine riesige Pizza verdrückt. Sanjay, die zwar einen Tisch weiter, aber ihm dennoch direkt gegenüber saß, war sicher, dass er mit den Gedanken weit weg war und es nicht registriert hätte, wenn der Koch ihm Karamellsoße über die Pizza gekippt hätte. Nicht einmal für Sanjay hatte er Augen, und das beruhigte sie irgendwie, denn der Kellner hatte ihr schon zweimal dumme Komplimente gemacht, und ein ältlicher Herr hatte sogar den Tisch gewechselt, um näher bei ihr zu sein.
    Sanjay war eine Schönheit. Sie hatte ein schmales, aber weiches Gesicht, eine gerade, ebenmäßige Nase, sinnliche dunkle Augen und einen Mund, der stets Intelligenz und Anmut ausstrahlte, ganz gleich, ob er ernst war oder lächelte. Ihr Aussehen verlieh ihr etwas Edles, Vornehmes, auch wenn sie sich ganz natürlich benahm. Sie schien eine Prinzessin zu sein, die sich unter die Bürgerlichen gemischt hatte, sich dort zuhause fühlte, aber niemals völlig ihre adlige Herkunft verleugnen konnte. Der Schimmer, der auf ihrer braunen Haut lag, war unbeschreiblich. Was Fotografen durch mühsame Beleuchtungstricks auf ihre Modelle zu zaubern versuchten, trug sie als ständiges Attribut mit sich herum.
    Irgendwann kam der Moment, da auch Paul sie entdeckte. Er hatte seinen Teller bis auf den letzten Krümel leergegessen und, während er noch kaute, das Portemonnaie hervorgezogen. Der Kellner war gerade hinter Sanjay mit dem Abräumen von Geschirr beschäftigt, und als Paul ihn ansah, blieb sein Blick an der jungen Halbinderin hängen.
    Und was Sanjay dann beobachten konnte, weckte in ihr die Liebe zu ihm.
    Dieser blonde, zerstreut und abgespannt wirkende Mann verwandelte sich vor ihren Augen. Die Müdigkeit, die in seinen Zügen lag, verschwand, seine trägen Blicke füllten sich mit Leben, er wurde ein anderer.
    Dass Männer scharf auf sie waren, war sie gewohnt. Dass ein Mann sich aber an ihrem Anblick labte wie an einem Quell, dass seine Haut sich bei ihrem Anblick zu straffen schien, dass ihre Schönheit ihn nicht aufgeilte, sondern ihn heilte, seine Erschöpfung und Sorge wegblies, das erlebte sie nicht alle Tage. Dies beobachten zu dürfen, erfrischte wiederum sie selbst. Das Gefühl, mit ihrer Schönheit nicht nur Objekt der Begierde zu sein, sondern eine heilende, wohltuende Wirkung auf ihre Umwelt zu haben, erfüllte sie mit Glück.
    Einige Sekunden lang merkte ihr Gegenüber nicht einmal, dass sie ihm dabei zusah, wie er sie anstarrte. Dann blinzelte er, als wäre er aus einem Traum erwacht, erschrak ein wenig und wandte sich schüchtern ab.
    Der Kellner trat an seinen Tisch und klatschte ihm die Rechnung hin. Dabei wandte sich der Italiener Sanjay zu, grinste ein anzügliches Grinsen. Pauls großzügiges Trinkgeld steckte er wortlos weg und kam dann zu ihr, um sich zu erkundigen, ob sie noch einen Wunsch hätte, einen Espresso vielleicht, oder …
    In diesem Moment ritt Sanjay der Teufel.
    „Ich habe tatsächlich einen Wunsch. Könnten Sie bitte den jungen Mann dort fragen, ob er sich nicht an meinen Tisch setzen möchte?“
    Die Miene des Kellners versteinerte. Eine Sekunde lang schien er mit sich zu hadern, dann kam er der Bitte nach. Der Mann, von dem sie gleich erfahren würde, dass er Paul hieß, erhob sich verblüfft, machte zwei zögerliche Schritte in ihre Richtung und sagte: „Entschuldigen Sie, aber …“
    „Sie müssen entschuldigen“, widersprach sie mit sanfter Stimme. „Ich wollte den Kellner ärgern.“
    „Ach … so.“ Er sah betreten aus der Wäsche, konnte sich jedoch offenbar nicht dazu entschließen, wütend auf sie zu werden.
    „Trinken wir einen Kaffee zusammen?“, lud sie ihn ein. „Es würde die Sache perfekt machen. Ich bin Sanjay.“
    So hatte es angefangen, und nun saßen sie sich wieder gegenüber, zum fünften Mal mittlerweile. Paul war achtundzwanzig und solo. Er arbeitete als Techniker in der IT-Branche und spielte in seiner Freizeit Schlagzeug in einer Jazzband. Als Sanjay ihm freimütig erzählte, dass sie an einer Privatschule für Okkultes studierte, hatte er nicht die Stirn gerunzelt, sondern war Feuer und Flamme gewesen und hatte ihr viele Fragen gestellt. Er hatte während der Pubertät einige Begegnungen mit Spukphänomenen gehabt und zeigte sich erfreut, dass er mit Sanjay offen darüber reden konnte. Bei Freunden und Kollegen war er nur auf Spott gestoßen.
    Das indische Essen war traumhaft. Nicht nur schmeckten die Speisen hervorragend, vom

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