Totenseelen
auf, wie still es in seinen vier Wänden war. Er öffnete die Tür zum Garten, damit er das gleichmäßige Rollen der Brandung hören konnte, und ließ sich erschöpft in den Sessel am Fenster fallen. Saß da, drehte sein Bierglas in den Händen, füllte es auf, trank, schenkte wieder ein und dachte über weibliche Logik nach.
Frauen blieben ihm rätselhaft. Vielleicht waren deswegen seine Versuche gescheitert, mit einer von ihnen zusammenzuleben. Über ein paar aufregende Wochen war es bisher nur einmal hinausgegangen, und am Ende schien es ihm wie Aufatmen, als er wieder alleine war. Besser so, dachte er, als eine Frau, die einem die Luft abschnürt wie ein zu enger Uniformkragen. Oder sein Herz an eine zu hängen, die ihm dann ein anderer wegschnappte. Einer, der smarter war oder mehr zu bieten hatte. Wahrscheinlich sogar beides. Seitdem ignorierte er Anfälle von Einsamkeit nach Kräften und hatte sich sogar ein wenig mit Kästners Philosophie angefreundet: »Weiber! Entweder sie hängen dir dauernd auf der Pelle und lassen dich am liebsten keinen Schritt mehr alleine tun, oder sie interessieren sich nicht die Bohne für das, was du willst, und sind bei der erstbesten Gelegenheit auf und davon.« Für Kästner verstand sich von selbst, dass nur ein Frauenkenner wie er noch eines der letzten Exemplare einer aussterbenden Spezies hatte erobern können. Andrea Kästner war eine patente Frau, etwas spröde vielleicht, aber nett und für den Polterer Kästner genau die Richtige.
Pieplow seufzte, weil er sich eingestehen musste, dass er gegen die Richtige für sich selbst auch nichts einzuwenden hätte, auch wenn er sich redlich bemühte, darüber nicht weiter nachzudenken.
Er stand auf, schloss die Terrassentür und gönnte sich noch eine Flasche Bier für die richtige Bettschwere.
4
Das schrille Kreischen passte nicht zu einem Morgen wie diesem. Fast windstill war es, die Septembersonne war durch den Frühdunst gedrungen und strahlte mit milder Wärme, und in der Seeluft mischten sich Herbstgerüche.
Der Mann mit der Steinfräse hielt inne, prüfte, wie weit er im weichen Putz vorgedrungen war, und setzte neu an. Er folgte exakt den Linien, die ein torgroßes Rechteck auf der Wand markierten. Dabei turnte er auf einem niedrigen Gerüst herum, das wie ein Podest über dem Graben aufragte. Was vom Toten zu sehen gewesen war, verbarg eine stabile Konstruktion aus Balken und Planen, die verhinderte, dass der Abbruch das Skelett beschädigte.
Im Haus warteten die Holztreppe und ausgehängte Türen auf den Transport nach draußen. Danach, etwa am frühen Nachmittag, schätzte die Spurensicherung, konnte der Fußboden im Haus entfernt werden.
»Ein Aufriss ist das«, schnaubte Kästner, »als wenn’s um wer weiß was ginge. Hätte sich der Kerl nicht irgendwo auf freier Fläche verscharren lassen können?«
»Wenn es ein Kerl war«, gab Pieplow zu bedenken.
Aber Kästner hatte sich so seine Gedanken gemacht und war zu einem Ergebnis gekommen, das er einleuchtend fand. »Es war ein Mann, glaub mir. Frauen werden vermisst, wenn sie umgebracht werden, Männer nicht.«
»Was ist das denn für ein Quatsch?«
»Das ist kein Quatsch, Pieplow, das ist Lebenserfahrung. Auf Hiddensee machen die Leute Urlaub, stimmt’s?«
Überflüssig darauf zu antworten.
»Na, bitte. Und vor siebzig Jahren fuhr eine Frau nicht allein in Urlaub, wenigstens keine anständige. Sie hatte ihren Mann dabei oder wenigstens eine Freundin. Mit anderen Worten, jemanden der sie vermisst hätte.«
»Es sei denn, ihr Mann hat sie umgebracht, weil sie eben keine anständige Frau war, hat sie unter Schlesingers Haus verschwinden lassen und ist zufrieden seiner Wege gegangen. Aber vielleicht schließt er sich ja deiner Meinung an. Schließlich hat er dich ausdrücklich zur Besprechung herbeordert.«
Kästners Miene verfinsterte sich. Auch ohne Pieplows Kopfbewegung zu Böhm hin hätte er gewusst, von wem die Rede war. »Ob du’s glaubst oder nicht, darauf lege ich nicht den geringsten Wert«, schnaubte er und stapfte so zackig, wie Plastikhalbschuh und Krücken es zuließen, in Richtung Gartentisch davon, an dem auch heute wieder die Morgenbesprechung stattfinden sollte.
Böhm stand, während alle anderen saßen. Er nahm die Sonnenbrille ab und begrüßte die Runde mit einem forschen »Also dann, meine Herren«.
Es saßen tatsächlich nur Männer auf den alten Gartenstühlen um den Tisch mit der abblätternden Farbe. Die Staatsanwältin hatte
Weitere Kostenlose Bücher