Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
wissen. Das hielt aber niemanden davon ab zu töten. Das war zur Routine geworden und ging wie von selbst immer weiter.
Schneeflocken fielen Frieda in den Kragen und schmolzen. Es war unangenehm, aber nicht zu vermeiden. Denn sie hielt den Kopf gesenkt wie alle. Hoffte wie alle, dass Kieling zu niemandem »mitkommen« sagen würde. Und wenn doch, dass er es zu einer anderen sagte.
Es war still. Nur der Schnee knirschte, als die schwarzen Stiefel kamen. Spät sah Frieda sie, denn sie hatte den Blick auf den Boden geheftet. Einen guten Meter vor ihr blieben sie stehen. Und dann geschah nichts. Die Stiefel waren einfach da, standen im Schnee und warfen Schatten in die Nacht. Frieda spürte, dass er sie ansah. Kieling nahm sich Zeit. Das tat er immer, als denke er sorgfältig über den nächsten Schritt nach. Das konnte eine Exekution sein, oder er verhängte eine mildere Strafe über einen Häftling. Oder es geschah gar nichts und Kieling ging wieder. Er war wie alle SS-Leute unberechenbar. Das gehörte zum System.
Zeit verging, Schneeflocken sanken zu Boden. Niemand rührte sich. Auch Kieling nicht. Es war, als würde er diese stillen Momente genießen. Mit einem Mal tippte die Spitze seiner Reitgerte auf Friedas Schulter. Jetzt musste sie ihn ansehen. Oberscharführer Lohmeier trat neben Kieling und leuchtete mit seiner Taschenlampe in Friedas Gesicht. Sie selbst konnte Kielings Gesicht im Halbschatten nur erahnen, denn die Lampe blendete sie. Die zwei hellen Flecken hinter dem Lichtstrahl mussten seine Augen sein. Es kam ihr vor, als blinzelten sie nicht. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Das würde Kieling nicht entgehen, und vielleicht war es gerade dieser Anblick, der ihn so lange hinsehen ließ. So schnell, wie er gekommen war, schwenkte der Lichtkegel wieder von Frieda weg. Die Spitze der Reitgerte kam erneut auf sie zu, bewegte sich über ihre eingefallene Brust bis hinauf unter das Kinn. Sie spürte einen leichten Druck, die Gerte bog sich nach oben durch. Da war keine Gewalt dabei. Die Berührung hatte den Charakter eines sachten Hinweises. Nachdem sie beide eine Weile in dieser Stellung verharrt waren, drehte sich Kieling weg und murmelte: »Das machen wir morgen.«
Eine Stunde ließ er sie in der kalten Mainacht warten, stand vor ihnen, zupfte an der Spitze seiner Reitgerte und schien nachzudenken. Immer wieder spürte Frieda seinen Blick. Er dachte über sie nach. Wenn er sie erkannte, daran hatte Frieda nicht den geringsten Zweifel, würde er sie erschießen. Am nächsten Tag, so hoffte sie, würden die Amerikaner hier sein.
2
47 Jahre später, Herbst 1992
D er Föhn blies an diesem Novemberabend, der warm war und hell, denn der Vollmond schien durch die dünne, immer wieder aufreißende Wolkendecke auf den See. Polizeiobermeister Georg Stangel und sein junger Kollege Leonhardt Kreuthner stellten ihr Dienstfahrzeug auf dem Parkplatz vor der Polizeiinspektion Bad Wiessee ab und gingen in das Bürogebäude, um den Wagen an die Kollegen der nächsten Schicht zu übergeben. Sie hatten Feierabend, und Kreuthner war aufgekratzt. An diesem Abend hatte er etwas Besonderes vor, etwas, das es nur alle paar Jahre gab. Wenn überhaupt.
»Und – gehst noch rauf auf’n Berg?«, fragte Stangel den jungen Kollegen, als sie sich umzogen.
»Logisch«, sagte Kreuthner und lächelte mit einem nachgerade verklärten Gesichtsausdruck. Von draußen hörte man Lärm. Irgendetwas war los in den um diese Zeit sonst ruhigen Diensträumen. Ein Mann schrie. Der Schrei klang erbost und nach Schmerzen. »Wen ham s’ denn da erwischt?«
Stangel zuckte mit den Schultern. Auch Kreuthner war nicht wirklich interessiert. Vielleicht wäre er es an einem normalen Abend gewesen. Heute hatte er es eilig, wegzukommen. Als Kreuthner gerade seine Uniformhose ausziehen wollte, betrat der Dienststellenleiter die Umkleide. »Kannst gleich anlassen«, sagte er zu Kreuthner. Der blickte seinen Chef verständnislos an. »Du machst heute Nachtschicht.«
»Ich mach was?«
»Geht net anders. Der Sennleitner ist krank.«
»Aber ich … ich kann heut net. Auf gar keinen Fall. Ich … ich hab an wichtigen Termin.«
»Du bist der Jüngste und ohne Familie. Die trifft’s halt immer. Sorry.«
»Jetzt wart halt mal!« Kreuthner machte den Reißverschluss seiner Hose zu und ging dem Dienststellenleiter nach, der wieder auf dem Weg ins Büro war. »Wieso muss denn heute jemand in der Station sein?«
»Wir haben sonst nicht genug Leute hier.
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